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High Performers

Als in Kalifornien einst die Tech-Industrie entstand, waren viele ihrer Vordenker auf LSD. Nun feiern Psychedelika im Silicon Valley eine Renaissance

Als ich herzog«, sagt Pawel, »hatte ich von Drogen keine Ahnung, außer von Cannabis.« Pawel heißt in Wahrheit anders, lässt sich aber lieber unter Pseudonym zitieren. Denn er hat eigentlich zwei Identitäten.

Einerseits ist Pawel einer jener High Potentials, die in Kalifornien mit Anfang 30 so viel Geld verdienen wie ein deutscher Sparkassendirektor kurz vor der Rente. Pawel wurde in den frühen 80er-Jahren in Osteuropa geboren, kam über einige Stationen nach Stanford, studierte dort humanities, verstand aber auch viel von Technik und Wirtschaft. Heute arbeitet er als Consultant in Palo Alto und bewohnt mit zwei Codern eine weitläufige Villa.

Andererseits gehört Pawel mittlerweile aber auch zur großen Psychedelika-Gemeinde des Silicon Valley. Pawel ist in jedem Sinne gern high. Bloß sind der Genuss und die Verbreitung von psychedelischen Drogen wie LSD, DMT, der Pilzdroge Psilocybin und MDMA – der Hauptbestandteil von Ecstasy – auch im liberalen Kalifornien illegal. Noch jedenfalls.

Wer in Kalifornien Cannabis konsumieren möchte, hat es hingegen heute schon leicht. Man geht einfach zu einem einschlägig bekannten Arzt, erzählt was von Rückenleiden oder Unwohlsein, zahlt zwischen 30 und 100 Dollar und erhält die Erlaubnis, in einem der marijuana dispensaries, die mit ihren Milchglasschaltern so aussehen wie Apple Stores, Gras zu kaufen. Erstaunlich daran ist eigentlich nur, wie normal das mittlerweile ist. Vor wenigen Jahren noch mussten Kiffer ihren Stoff bei dubiosen Dealern kaufen. Heute ist das cannabusiness mit einer jährlichen Wachstumsrate von 75 Prozent der vitalste Wirtschaftssektor in den USA, der bald zehn Milliarden Dollar pro Jahr umsetzt. Im Eiltempo wurde Cannabis enttabuisiert. Es dürfte nicht die letzte Droge gewesen sein, die der Illegalität entrissen wird.

In Kalifornien gibt es nicht wenige, die davon ausgehen, dass psychedelisch wirkende Substanzen bald wieder legal sein werden – und es dann einen ähnlichen Boom geben wird wie heute um Cannabis. Seit ein paar Jahren bereits dürfen mit MDMA und Psilocybin in einigen Ländern wieder medizinische Versuche durchgeführt werden, in den USA, aber auch in Kanada, Israel und der Schweiz etwa. Dazu kommt, dass der Konsum bewusstseinsverändernder Substanzen gerade eh eine Wiederentdeckung erlebt. Zehntausende Menschen pilgern jährlich nach Südamerika, um sich dort auf eine Jenseitsreise des Geistes zu begeben: mittels des Schamanen-Getränks Ayahuasca, einem DMT-Sud. Und auch in der Popkultur, auf Festivals wie dem Burning Man oder in der Musik von Animal Collective und A$AP Rocky, wird an den Pforten der Wahrnehmung gerüttelt wie seit Langem nicht mehr.

Vielleicht am deutlichsten aber wird die psychedelische Renaissance im Silicon Valley. Hier arbeitet eine wachsende Zahl von Forschern, Aktivisten und Techies daran, die Erkundung, Manipulation und womöglich auch Erweiterung des Bewusstseins mit entsprechenden Substanzen nicht nur zu legalisieren, sondern auf ein neues Niveau zu heben. Und damit auch den Menschen an sich.

In Filmen oder Serien wie Silicon Valley (in der der Psychedelika-Konsum eines Protagonisten gezeigt wird) werden Valley-Bewohner stets als vollbärtige, schreiend gut gelaunte Surfer-Hacker mit bunten Shirts dargestellt.

Pawel ist anders, ein schmächtiger junger Mann mit auffallend gerader Haltung, der die Haare gescheitelt trägt und in seiner Freizeit lieber deutsche oder französische Lyrik liest, als am Computer zu zocken. In gefälligem Deutsch – das er neben seiner Muttersprache sowie Spanisch und Englisch perfekt spricht – erzählt er von seinen kalifornischen Erfahrungen mit den Stoffen fürs gehobene Bewusstsein.

Natürlich nimmt nicht jeder Bewohner des Silicon Valley psychedelische Drogen; und natürlich sind auch hier, wie überall, wo viel und lange gearbeitet wird, leistungsfördernde smart drugs wie Ritalin oder Modafinil die am häufigsten verwendeten psychotropen Stoffe. »Aber es herrscht eine allgemeine Akzeptanz gegenüber psychedelischen Erfahrungen«, sagt Pawel. »Mehr noch: Man berichtet von seinen Trips mit einem gewissen Stolz.« Schon auf der allerersten Tech-Konferenz, auf der Pawel im Valley war, wurde offen darüber geredet, und zwar von »Personen, die von jeder Subkultur so weit entfernt waren, wie man es sich nur vorstellen kann: einem Berater, einem Anwalt und einem Technikjournalisten«. Allen sei aber bewusst, dass diese Offenheit nur hier herrsche. »Es ist eine Art Insider-Ding«, sagt Pawel. Wenn etwa Anzugträger von der Ostküste mit einem lockeren »Hi« an den Tisch träten, dann verstummten Gespräche über die unendlichen Windungen des Kaninchenbaus schnell.

Der entspannte Umgang mit Psychedelika, gerade auch bei Techies, hat Tradition in Kalifornien. Schon bevor die Hippies Mitte der 60er-Jahre nach San Francisco zu strömen begannen, war LSD in die sich entwickelnde Tech-Industrie der Bay Area eingesickert. Verantwortlich dafür war vor allem ein Mann namens Myron Stolaroff. Der arbeitete als technischer Designer und Vertriebschef für Ampex, den damaligen Weltmarktführer für Audio- und Videoaufnahmetechnik, und hatte über einen Bekannten, den Schriftsteller Gerald Heard, von der bewusstseinserweiternden Wirkung von Psychedelika erfahren. Also probierte Stolaroff LSD. Und war derart euphorisiert, dass er auf eine unkonventionelle Anwendung kam: Könnte die Substanz, die ja auch die Klarsicht fördern kann, nicht bei Schwierigkeiten in der Firma weiterhelfen, etwa beim Produktdesign?

Eher nicht, fand das Management von Ampex. Doch das entmutigte Stolaroff nicht. Er kündigte und gründete 1960 die International Foundation for Advanced Study (IFAS) in Menlo Park. Deren Ziel war die Erforschung von LSD und Meskalin als Mittel zur effektiven Lösung von Problemen. Im Laufe der nächsten Jahre besuchten viele Ingenieure und Designer aus den Tech-Unternehmen der Gegend die IFAS, um unter dem Einfluss von 100 Mikrogramm LSD (eine mittlere Dosis) technische Hürden zu überwinden.

James Fadiman, ein eleganter, mittlerweile 76-jähriger emeritierter Professor, begleitete damals als Psychologe die Versuchsreihen: »Wir fanden heraus, dass die Teilnehmer Muster besser wahrnehmen konnten. Sie sahen, in welchem Netzwerk die Dinge eingebettet waren, die sie bearbeiten wollten. Sie erkannten Verbindungen, die sie vorher übersehen hatten.«

Einer der frühen Gäste der IFAS war Douglas Engelbart, der später die Computermaus erfinden sollte und einer der entscheidenden Köpfe der Konstruktion des Arpanets war, des Vorläufers des Internets. Engelbart schrieb 1962 in seinem Aufsatz Augmenting Human Intellect von einem Computer, der dabei helfen sollte, das Potenzial des menschlichen Geistes umfassender zu entfalten. Sein Augmentation Project mündete in einer Präsentation, die bis heute im Silicon Valley als »the mother of all demos« gilt. Während der Fall Joint Computer Conference 1968 in San Francisco führte Engelbart Dinge vor, die damals völlig neu waren. Über ein Headset, das seine Stimme metallen übertrug, erklärte der Computerwissenschaftler die Eingabe von Text über eine Tastatur, dessen Verschieben mithilfe einer Maus und grafische Elemente wie zum Beispiel ein »window«, das die Benutzeroberfläche eines Programms rahmte.

Nach den anderthalb Stunden Präsentation war die Computerwelt eine andere. Die Erfindungen von Engelbart und seinem Team, zu dem auch James Fadiman gehörte, trugen etwas später zur Konstruktion des ersten Personal Computers der Geschichte bei, dem Xerox Alto. (Engelbart und Stolaroff starben beide im Jahr 2013, hochbetagt und ziemlich vergessen von der Welt.)

Einer der Assistenten von Engelbart bei der Präsentation 1968 war Stewart Brand, der im selben Jahr erstmals den Whole Earth Catalog herausgab, eine Sammlung von Texten über die Dinge, die man aus Sicht von Brand zum Leben in der Gegenkultur brauchte. Im Jahr 2005 nannte Steve Jobs bei einer Rede in Stanford den Whole Earth Catalog »die Bibel meiner Generation: Es war eine Art Google in Taschenbuchform, 35 Jahre bevor es Google gab.«

Fadiman bestätigt heute ebenfalls, dass die kalifornische Gegenkultur der 60er-Jahre damals großen Einfluss auf das Augmentation Project hatte. Es wurde gekifft und LSD genommen, von Engelbarts Leuten ebenso wie von denen des befreundeten Stanford Artificial Intelligence Lab (SAIL). Dort wurde nicht über die Erweiterung des menschlichen Gehirns nachgedacht, sondern über dessen künstliche Nachbildung. Immer wieder besuchten junge Enthusiasten aus dem Valley SAIL. Unter ihnen waren auch Steve Jobs und Steve Wozniak, aus deren Homebrew Computer Club Apple erwuchs. Jobs erwähnte später wiederholt, wie wichtig LSD für ihn und Apple gewesen sei. James Fadiman sagt: »Ich glaube, LSD hat Jobs’ Denken über Ästhetik verändert. Denn das Tolle an Apple-Produkten ist ja, dass sie nicht nur außen, sondern auch innen, wo man sie nicht betrachten kann, schön sind. Jobs sah nicht nur eine Seite der Medaille, Er sah beide.«

Wie viel LSD steckt also noch in den Produkten und Prozessen, der Hard- und Software, die heute die ganze Welt benutzt? Jedenfalls sind viele ihrer Urformen von Menschen erfunden worden, die psychedelische Erfahrungen nicht nur für Freizeitvergnügen hielten.

Und diese Verbindung zwischen Tech-Industrie und Psychedelika riss nie ab. In den frühen 90er-Jahren entwarf der LSD-Enthusiast und einstige Bürgerschreck Timothy Leary Computerspiele wie Mind Mirror, das bei Electronic Arts erschien. Leary sagte: »Der PC ist das LSD der 90er-Jahre.« Ein Satz, der das Dogma der Cyberdelics wurde: einer Gruppe, deren Mitglieder Psychedelika und Hackertum zugeneigt waren, Teil der Techno-Szene wurden und den Cyberspace zur Bewusstseinserweiterung nutzen wollten. Ihren Life-style begleiteten Cyberpunk-Magazine wie High Frontiers und Reality Hackers, die später zu Mondo 2000 (heute: boingboing.net) wurden und so was wie Vorläufer von WIRED waren.

Heute erleben Psychedelika nicht nur als kreative Impulsgeber eine Renaissance im Silicon Valley, es wird auch wieder deren Wirkung auf unsere Hirntätigkeit erforscht, so wie es Stolaroff und Fadiman in den 60er-Jahren getan haben. In Stanford knüpft Andrés Gómez Emilsson an deren Erkenntnisse an. Emilsson ist 24, Mathematikgenie und Präsident der Stanford Transhumanist Association, einer Studentenvereinigung, die sich mit den ethischen und technischen Fragen der künstlichen Erweiterung menschlicher Fähigkeiten befasst. Das Interesse Emilssons gilt unserer Wahrnehmung und dem Einfluss von Psychedelika auf sie. Dafür untersucht er, in welcher Form Menschen bestimmte Texturen – zum Beispiel die Rinde eines Baumes, Mauerwerk oder die Oberfläche eines Tisches – einerseits nüchtern und andererseits under the influence erfassen.

Emilsson ist überzeugt davon, dass unser Bewusstsein wie ein Computer prozessgetrieben ist, er nennt es Qualia Computing: dass es bestimmten Algorithmen folgt, die unsere Wahrnehmung beeinflussen und uns Menschen im Laufe der Evolution einen Vorteil verschafften. Dass wir unsere Sinne im nüchternen Zustand aber auf die bestmögliche Art nutzen, ist deswegen keinesfalls sicher. Anzeichen dafür sind, dass schon in den Studien von Stolaroff herauskam, dass man auf LSD unter anderem Größenverhältnisse sehr viel besser einschätzen kann.

Emilssons Arbeit besteht nun darin, Paradigmen zu bestimmen, die psychedelische Bewusstseinszustände präziser beschreibbar machen; und außerdem zu prüfen, wie diese in Zukunft die Wahrnehmung des Menschen verbessern könnten. Er folgt also der transhumanen Idee, das menschliche Dasein durch Technik auf eine höhere Ebene zu bringen. Aus europäischer Perspektive erscheint das gelinde gesagt exotisch, im Silicon Valley wundert sich niemand darüber. »Ich habe hier in Stanford noch keinen Professor getroffen, der keine Erfahrung mit Psychedelika gemacht hat«, sagt Emilsson. »Und wenn ich mich bei Start-ups um Jobs bewerbe, halte ich in den Vorstellungsgesprächen nicht mit meinen Interessen hinter dem Berg – was kein Problem ist, denn die CEOs sind dann schnell dabei, von ihren eigenen Trip-Erlebnissen zu erzählen.«

Emilssons Qualia-Computing-Projekt ist Teil einer größeren Bewegung im Valley, die sich dem conscious engineering verschrieben hat, also der Manipulation unseres Bewusstseins und unseres Stoffwechsels, um letztlich eines der drei Ziele des Transhumanismus zu erreichen: die universelle superhappiness (neben superintelligence und superlongevity). Ginge es nach den Transhumanisten, soll jeder Mensch in Zukunft seinen Bewusstseinszustand kontrollieren können. Traurigkeit und depressive Leiden würden der Vergangenheit angehören. Als exemplarischen Superhappiness-Zustand betrachten Trans-humanisten wie der Philosophieprofessor David Pearce, ein enger Freund Emilssons, die euphorische Gemütslage auf MDMA: Wäre unser Leben nicht viel erfüllter, wenn man unsere Gehirnstruktur so verändern würde, dass wir grundsätzlich einfühlsam, liebevoll und interessiert sind, unsere Stimmung immer in Balance bleibt, wir nie in die Spiralen des Negativen geraten? Noch steht die Forschung in diesen Bereichen am Anfang. Auch weil psychedelische Substanzen bis jetzt eben fast nur in medizinischen Studien verwendet werden dürfen. Doch Emilsson und seine Kollegen gehen davon aus, dass LSD und MDMA ähnlich wie Cannabis bald wieder legal sein werden. Sie schaffen gerade die Grundlagen für einen neuen Wissenschaftszweig, der in ein paar Jahren das Menschsein wesentlich umgestalten soll.

Die Arbeit mit MDMA spielt bereits eine Rolle im Valley. Der Designstudent Samuel Rockwell etwa arbeitet gerade in Stanford an seiner Abschlussarbeit, er entwirft einen Session-Raum für die psychotherapeutische Behandlung mit MDMA. In mehreren klinischen Tests wurde belegt, dass MDMA-gestützte Therapien bei posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) eine Erfolgsquote von 83 Prozent haben und damit eine etwa viermal so hohe wie herkömmliche. Die Ergebnisse sind so eindeutig, dass selbst die U.S. Army bereits beginnt, MDMA als therapeutisches Mittel zu akzeptieren. Die Probleme mit PTBS sind gerade bei Kriegsheimkehrern zu gewaltig, laut Statistik bringen sich in den USA täglich 22 traumatisierte Soldaten um.

»Besonders die Behandlungszimmer in den Veteranenkrankenhäusern sind oft klinische, kalte Räume ohne natürliches Licht«, sagt Rockwell. »Wir scherzen immer, dass wir einen Krieg gegen die Farbe Beige führen.« Er und sein Team haben eine leichte, transportable Kuppel aus geflochtener Baumwolle entworfen, die in den üblichen Therapiezimmern installiert werden kann. Sie schafft einen geschlossenen Multimedia-Rahmen, in dem der Patient selbst bestimmen kann, welche Lichtstimmung ihm den Zugang zur MDMA-Erfahrung erleichtert, welche ihn wieder sanft in die Nüchternheit zurückführt und welche Musik ihm hilft, sich tiefgehender mit sich selbst auseinanderzusetzen. »Für den Therapieerfolg ist es sehr wichtig, dass der Patient die Kontrolle über seine Umwelt behält«, sagt Rockwell. Um bessere Kenntnisse über Anforderungen und Umstände der MDMA-Therapie zu erhalten, tauscht er sich immer wieder mit den Leuten von MAPS aus.

MAPS steht für Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies und ist eine Non-Profit-Forschungsorganisation, die von dem Psychologen Rick Doblin gegründet wurde. Eines ihrer Ziele ist es, Psychedelika zu enttabuisieren. Dafür, sagt Doblin, müsse die Öffentlichkeit davon überzeugt werden, »dass Substanzen wie MDMA oder Psilocybin einen medizinischen Nutzen haben«. Deshalb organisiert und finanziert MAPS klinische Tests, die das belegen sollen. Die Studien sind teuer, Doblin muss ständig Spenden sammeln – und am erfolgreichsten ist er im Silicon Valley. »90 Prozent unserer Einnahmen stammen von zehn Prozent unserer Spender, und die sind alle Techies aus dem Valley: Leute, die in den vergangenen 30 Jahren sehr viel Geld verdient haben.«

Vor Kurzem eröffnete MAPS ein Büro in Palo Alto, um auch die jungen High Potentials für sich zu gewinnen. Das geschieht mit Fundraising-Veranstaltungen, auf deren Einladungen das Wort psychedelic durch transformative medicine ersetzt wurde. Dem Althippie Doblin ist diese Art Tarnung zuwider, aber er akzeptiert die Spielregeln. Sein Masterplan geht so: Läuft alles gut, wird MDMA in den USA 2021 als Medikament freigegeben, MAPS wird dann eine Fünfjahreslizenz haben, um den Stoff zu vermarkten. »Das wird zwischen 20 und 50 Millionen Dollar in unsere Kassen spülen«, sagt Doblin. Damit sollen Studien finanziert werden, die auch die anderen psychedelischen Substanzen enttabuisieren und deren Legalisierung vorantreiben sollen.

So lange wollte Pawel nicht warten. Bald nachdem er auf der Tech-Konferenz den Trip-Berichten lauschte, fuhr er nach Peru, um dort Ayahuasca zu trinken. »Es war das Intensivste, Erstaunlichste und Schönste, was ich je erlebt hatte«, sagt er. Zurück in Palo Alto, mietete er sich eine alte Kapelle, die verborgen liegt zwischen riesigen Redwoods. Hier verbringt Pawel seine Wochenenden – und trinkt Ayahuasca.

Für Pawel ist die Annahme Quatsch, dass Psychedelika High Potentials wie ihm milliardenschwere Geschäftsmodelle einflüstern könnten. »Für mich sind diese Wochenenden eine spirituelle Erfahrung. Die hat wenig mit alten Riten zu tun, dafür sehr viel mit mir. Ich höre mir auf Ayahuasca gerne Lyrik-Lesungen an, etwa Rilke. Sinn und Klang ergeben völlig neue Muster, es ist, als vernähme und verstünde ich eine neue Sprache. Ich will Neuland betreten.«

Pawel glaubt zu wissen, wieso man gerade in dieser Gegend in Kalifornien für die Erforschung des eigenen Bewusstseins so aufgeschlossen ist: Das hänge mit einem Buch zusammen, das im Valley jeder kenne, The Black Swan von Nassim Nicholas Taleb. Darin geht es um Ereignisse, die enorm unwahrscheinlich sind und deshalb immer unerwartet. Wenn sie jedoch eintreten, haben sie den größtmöglichen Effekt auf unser Weltbild, unser Wissen.

»Jeder hier träumt davon, einen schwarzen Schwan zu finden, mit einer kleinen Erfindung die Organisation des Wissens zu revolutionieren«, sagt Pawel. »Nur ist die Welt heute bis in ihre Atome erforscht. Es scheint immer schwieriger zu werden, auf etwas komplett Unerwartetes zu stoßen.«

Vielleicht ist es einfach so: Wenn die Menschen glauben, dass es draußen gerade nichts zu entdecken gibt, führen ihre Forschungsreisen nach innen.

Interview Magazin

Drama & Videogames

Fatima Al Qadiri macht Platten von eindringlicher, dunkler Schönheit. Sie gehört zur Speerspitze von Musikern, die elektronische Musik nicht mehr nur für die Tanzfläche oder das Wegdriften auf der Couch produzieren, sondern als politisches Statement. Hier erzählt sie vom Wert der Langweile, den Unsinn des Stolzes und ihrer neuen Heimatstadt Berlin

Frau Al Qadiri, Sie haben in den letzten Jahren in New York gelebt. Warum sind Sie im Januar nach Berlin gezogen?

Das hat zum einen private Gründe, zum anderen war ich die letzten zwei Jahre sehr viel auf Tour. Davon wollte ich jetzt eine Pause nehmen. In New York wäre das nicht möglich gewesen, die Mieten sind extrem hoch. Auszeiten kann man sich dort kaum leisten. In Berlin ist das leichter. Ich meine, ich liebe die USA, ich bin Hardcore New Yorkerin, aber gerade fühle ich mich zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Es ist meine David Bowie Berlin Phase.

Wie haben Sie die Stadt bisher wahrgenommen?

Man spürt, dass sich Berlin in den letzten zehn Jahren rapide verändert hat. Leute aus der ganzen Welt strömen hierher, weil beinahe alle anderen Metropolen so unglaublich teuer geworden sind. Ich wohne jetzt am Alexanderplatz, ein verrückter Ort. Eine Touristenattraktion wie der Times Square oder der Leicester Square in London. Und ich mittendrin. Was dazu noch ein bisschen seltsam ist: Meine Eltern haben sich am Alexanderplatz verliebt.

Am Alexanderplatz?

Ja, verrückt oder? Irgendwann Anfang der 70er Jahre. Sie waren beide Teil einer Studentenvereinigung, die zu einem Kongress in die DDR eingeladen war. Mein Vater war der Leiter der Vereinigung, meine Mutter eine Studentin. Er hatte sich vorher schon auf einer Reise nach Kairo in sie verliebt. Dann ging es darum, wer nach Berlin mit darf. Mein Vater suchte aus. Und sie war natürlich dabei. Er war ganz schön gerissen, nicht wahr?

Mit ihren Eltern und zwei Schwestern erlebten Sie später in Kuweit die Invasion des Irak. Sie erwähnten einmal, dass das eine prägende Zeit für Ihren Zugang zur Musik war. Warum?

Bis heute kann ich nur Musik komponieren, wenn mir unglaublich langweilig ist. Es darf nichts anderes passieren, keine Tour, keine Interviews, nichts. Die Invasion war damals kurz vor dem Ende unserer Sommerferien, die sich dann wie von Geisterhand fortsetzten. Worüber wir natürlich glücklich waren, wir kapierten ja nicht, was Invasion und Besetzung bedeuteten. Ich war damals neun Jahre alt. Für uns gab es das übliche Programm nicht mehr, das in diesem Alter vor allem aus Schule besteht. Es war der totale Stillstand. Obwohl wir ständig umziehen mussten, weil meine Eltern von Anfang an im Widerstand waren und sich vor der irakischen Armee verstecken mussten, geschah für uns Kinder nicht viel. In jedem neuen Haus waren andere Spielzeuge, mit denen wir eine Welt kreierten. Vor allem mit Videogames.

Welches war ihr Lieblingsspiel?

Sehr gern mochte ich das Vampirjäger-Spiel „Castlevania“ auf der MSX Konsole, besonders wegen dem Soundtrack. Ich habe vor Kurzem eine Dokumentation über den Einfluss von frühen Videogame-Soundtracks auf heutige Musikproduzenten gesehen. Und dort tauchte auch die Frau auf, die die Musik für „Castlevania“ komponiert hat. Kinuyo Yamashita, ihr Künstlername ist James Banana.

Was faszinierte Sie so an dieser simplen 8-Bit Musik?

Was ich lange nicht wusste, ist, dass sich damals fast alle dieser Tracks auf klassische Musik bezogen oder sie direkt kopierten. Es war Fortschritt, aber in sehr einfacher, fast primitiver Form. Ein Zuckerwürfel, der einen schnellen Rausch verspricht und wenn er vorbei ist, will man mehr davon. Diese Musik hatte immer wie Klassik auch etwas Dramatisches, und als Araberin fühle ich mich zum Drama hingezogen. Mit meiner Schwester habe ich dann während der Besetzung auf einem Keyboard meinen ersten Song komponiert. Ich weiß nicht mehr, wie er klang, aber er hatte sicher was von den Videogames.

Warum fühlen Sie sich als Araberin zum Dramatischen hingezogen?

Wissen Sie, so viele Aspekte der arabischen Kultur haben mit Stolz und Würde und deren Bewahrung zu tun. Die ganze Erziehung zielt darauf ab. Die mediterrane Kultur, also etwa in Sizilien, Korsika, Libyen, in den nordafrikanischen Ländern und im weitesten Sinne auch in den Golfstaaten, ist besessen von Stolz und Würde. Wenn sie verletzt werden, muss man sich wehren. Eine stete Quelle von Drama. Ich musste mir meinen Stolz mühsam abgewöhnen, ich halte dieses Konzept für äußerst schädlich. Denn es verhindert soviel, vor allem das geistige Wachstum als Mensch, Offenheit. Auf der anderen Seite gibt es die Hingabe zur Traurigkeit. In Kuweit ist etwa die Tagikomödie mit Abstand das beliebtest Genre im Theater. Sie wollen lachen und weinen. So bekommt man sie.

Sind Sie religiös?

Nein, aber religiöse Musik inspiriert mich sehr. Mozarts Große Messe in C-Moll, Gregorianische Gesänge, islamische Sunni-Hymnen, buddhistische Gesänge. Diese Musik ist so pur und hat nur eine Funktion, die sich nie geändert hat. Es ist die dramatischte Musik überhaupt.

Ihre Musik spiegelt diese Einflüsse. Sie arbeiten gerne mit Chorälen, Synthieflächen mit Hall und schweren Bassläufen. Ihr letztes Album „Brute“ ist noch einmal düsterer und klaustrophober als der Vorgänger „Asiatisch“.  Sind sie während der Produktion in die Zeit des Stillstands während der Invasion gereist?

Nein. Aber es war trotzdem eine schwere Zeit für mich. Ich hatte eine Knöchelverletzung, konnte nicht laufen, lag im Bett und habe Twitter-Nachrichten gelesen. Schrecklich. Das hatte sicher Einfluss auf das Album.

Man kann aber „Brute“ auch als politisches Album hören, Sie sampeln Zitate von Polizisten über die Auflösung von Demonstrationen, in einigen Tracks hört man Polizeisirenen, eine Frauenstimme sagt: „People, who are drunk with power“.

Die Basis von „Brute“ ist sicher mein Zweifel, ob Demokratie heute noch möglich ist. Denn zu ihr gehören Grundrechte wie Rede- oder Versammlungsfreiheit. Es ist aber so, dass Demonstrationen gegen Regierungen immer öfter einfach aufgelöst werden, nicht selten gewaltsam. Unsere Redefreiheit wird kontinuierlich eingeschränkt, sie erscheint wie eine Fata Morgana. Von weitem ist sie klar erkennbar, wenn man sie aber erreicht, ist sie verschwunden. Donald Trump kündigt ja jetzt schon an, dass er, sollte er Präsident werden, Menschen verklagen wird, die sich kritisch zu ihm äußern. Dass jemand wie er jemals Präsidentschaftskandidat werden könnte, hätte ich nie für möglich gehalten. Wir leben in instabilen Zeiten. Auch ökonomisch. Man muss sich nur mal die Musikindustrie anschauen. Ich arbeite Monate an einem Album und am Tag der Veröffentlichung leaked es im Netz und ist nichts mehr wert. Vom Musik machen konnte man mal ganz gut leben. Das ist heute nicht mehr so. Mir ist klar, dass es nicht gerade künstlerisch ist, solche Dinge anzusprechen und dass es heute uncool ist als Musiker das politische System anzuprangern. Aber scheiß drauf.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang das Land, aus dem Sie stammen, Kuweit und die Golfstaaten?

Mir ist bewusst, dass diese Staaten von außen betrachtet sehr rigide und autoritär wirken. Und in vielen Teilen sind sie das sicher auch. Aber das Internet trägt dazu bei, dass es mehr und mehr Risse in diesen stabilen Konstrukten gibt. Viele Kuweiter leben zum Beispiel ihr geheimes Leben offen auf Instagram aus. Man findet dort Dinge, die bisher im tiefsten Underground stattfanden. Lesben, Schwule, Transsexuelle, Sadomasochisten, die sich dort zeigen und miteinander kommunizieren.

Und die Regierung liest nicht mit?

Nein, die interessiert sich mehr für politische Kommentare auf Twitter. Ein Bild auf Instagram ist eben kein direkter Angriff auf den Regierungsstil. Man muss wissen, dass diese Gesellschaften sehr private und formale Orte sind. Sehr gastfreundlich, sie empfangen einen, aber man wird nie hinter die Oberfläche blicken und verstehen, wie die Gesellschaften wirklich funktionieren. Sie sind sehr von der alten Stammeskultur geprägt, mehr als vom Islam. Sehr hierarchisch. Außerdem ist das asiatische Konzept der Kindlichen Pietät sehr wichtig. Die Verwandten, die Familie steht über allem, man ist dem Clan verpflichtet. Jeder Clan hat Regeln, folgt man ihnen nicht, wird man rausgeschmissen. Man muss gehorsam sein und das nicht in Frage stellen.

Hatte dieses Denken auch Einfluss auf Sie?

Nun. Meine Eltern haben uns zum zivilen Ungehorsam erzogen. Wir sollten die Autoritäten kritisch hinterfragen. Das war in diesem Umfeld natürlich sehr wertvoll für unsere Entwicklung. Gleichzeitig möchte ich aber Kuweit nicht zu schlecht darstellen. Die Wirklichkeit ist einfach grau. In unsere Verfassung steht etwa, dass alle Profite aus der Ölindustrie der Bevölkerung zugute kommen. In wie vielen anderen Ländern ist der wertvollste Rohstoff eine Art Sicherheitsnetz für alle? Die Regierung gewährte mir ein Stipendium, mit dem ich in den USA studieren konnte. Meine Eltern hätten das nie bezahlen können. Manche Dinge waren gut für mich in Kuweit, andere nicht, besonders als Frau. Aber es ist eben nicht schwarz/weiß. Man hat manche Freiheiten und andere wiederum nicht.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Notfalls das Gehirn entfernen

Die Vereinten Nationen ignorieren die Erkenntnisse einer modernen Drogenpolitik

Kurz bevor die erste Sondersitzung der UN-Generalversammlung zum Weltdrogenproblem (UNGASS) seit 1998 letzten Dienstag begann, erhoben noch einmal die Vertreter einer neuen Drogenpolitik ihre Stimme. In einem offenen Brief an UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon forderten sie eine „globale Antwort auf das Drogenproblem, die auf wissenschaftlicher Forschung, Mitgefühl und Menschenrechten basiert“. Unter den 1000 Unterzeichnern finden sich die ehemalige Präsidentin der Schweiz Ruth Dreifuss, Bernie Sanders, Michael Douglas, Annie Lennox, Warren Buffet, Richard Branson und der ehemalige Polizeichef von Münster Hubert Wimber. Man weiß natürlich nicht, was sich Ban Ki-Moon dachte, als er den Brief las. Vielleicht: „Schön, von euch zu hören, ihr habt ja recht.“ Und ziemlich sicher: „Träumt weiter!“Denn schnell wurde klar, dass die Generalversammlung eher Farce als Schritt in eine andere Richtung ist. Weg vom „War On Drugs“ hin zu Dekriminalisierung von Drogenbesitz oder gar Legalisierung von Anbau, Handel und Besitz? Von wegen. Es fand keine Debatte statt, es wurde am Ende der Konferenz auch kein Beschluss gefasst, weil es das Abschlussdokument schon seit März gibt. Bei UNGASS dürften die 193 Mitgliedstaaten das Dokument dann abnicken, was zwei Minuten nach Beginn der Sitzung in einer allgemeinen Erklärung der Fall war. So läuft das im Erd-Parlament.Verfasst hat das Abschlussdokument die UN-Suchtstoffkommission (CND), die in Wien tagt und 53 Mitglieder hat. Man merkt dem Papier das Ringen um einen Konsens an. Es wurde penibel darauf geachtet, keinem auf die Füsse zu treten und versichert, dass das große Ziel immer noch „eine Gesellschaft ohne Drogenmissbrauch“ sei. Das Phantasma einer nüchternen Welt, in der keiner mehr Lust auf Rausch hat, vernebelt den Geist der Suchtstoffkommission also immer noch. Das Dokument ist ein Sinnbild der Zerrissenheit der Vereinten Nationen. Auf der einen Seite steht ein Staat wie Uruguay, der den Anbau, Konsum und Verkauf von Marihuana legalisiert hat, auf der anderen Indonesien, wo Drogenbesitz mit dem Tod bestraft wird. Da sind eben nur kleine Schritte möglich.Und so taucht zwar im Text die Ermutigung über „alternative Schritte in Bezug auf Verurteilung und Bestrafung nachzudenken“ auf, das Wort Dekriminalisierung aber nicht. Ähnliches gilt für Maßnahmen, die zum einen Süchtigen helfen, ein würdiges Leben zu führen, indem sie nicht als Kriminelle verfolgt werden, sondern ihnen der Zugang zu medizinischer Behandlung ermöglicht wird, und im Allgemeinen das Risiko für alle Drogenkonsumenten mindern. Maßnahmen die unter dem Begriff „harm reduction“ versammelt werden. Auch er steht nicht im Dokument. Nur die Einladung „Medikament-gestützte Therapieprogramme“ und „Injektionseinrichtungen“ zu erwägen. Die Hardliner haben es letztlich geschafft, Punkte zu verwässern oder gar deren Aufnahmen zu verhindern. Die Ablehnung der Todesstrafe für Drogendelikte fehlt etwa völlig. Bizarr.Man muss dazu wissen, dass einer der mächtigen Player auf dem Feld Russland ist. Ein Land das die drittgrößte Heroinsuchtrate der Welt hat und seit ein paar Jahren unter einer sich rasend ausbreitenden AIDS-Epidemie leidet. Spritzenumtausch- und Substitutionsprogramme lehnt Moskau ab. Man geht lieber seinen eigenen Weg. Das zeigte auch eine von der Russischen Föderation gesponserte Nebenveranstaltung der UNGASS, auf der eine Regierungsvertreterin über den Unsinn von Methadon-Programmen referierte, ungeachtet der gegenteiligen Aussagen von ebenfalls anwesenden Suchtexperten aus anderen Ländern. Die Behandlung Süchtiger in Russland ist archaischer. Von Elektrokrampftherapie, über Hypnose bis zur operativen Entfernung von Teilen des Gehirns, die mit dem Verlangen nach der Droge in Verbindung gebracht werden. Eine Methode, die wohl auch in China beliebt ist.In so einem Umfeld ist es natürlich schwierig, ernsthaft über die Gründe von Sucht und Drogenkonsum zu diskutieren. Carl Hart, Professor für Psychiatrie und Neurowissenschaften an der Columbia University New York, versuchte es trotzdem. Auf einer weiteren Nebenveranstaltung berichtete er von seiner Forschung zu Crystal Meth. Er vergleicht mit seinem Team das Suchtpotential von Amphetaminen, die etwa zur Behandlung von ADHS verwendet werden, mit dem von Crystal. Einen signifikanten Unterschied konnten sie nicht feststellen. Fünf bis zehn Prozent der User würden abhängig werden, der Rest könnten den Stoff konsumieren, ohne sofort mehr davon haben zu wollen. Der Grund für Sucht sei nicht in der Substanz selbst zu finden, sondern viel mehr in der Lebenssituation der jeweiligen Person. Diese Erkenntnis entspricht in etwa den Erhebungen der UN, dass um die 90 Prozent aller Drogenkonsumenten ihren Gebrauch im Griff haben. Sie sehen die Substanzen eher als Bereicherung ihres Lebens denn Belastung. Der Gefahren, die sie befürchten müssen, gehen von der schlechten Qualität der Drogen aus, von den unkontrollierten Dosen, von skrupellosen Dealern. Direkte Folgen der Prohibitionspolitik der Vereinten Nationen. Aber bis dieses Eingeständnis in einem UN-Abschlussdokument steht, werden wohl noch viele Jahre vergehen. Es wäre ein Symbol für eine Zeitenwende, eine Revolution, die viele schon jetzt erwarteten. Vergeblich.

Interview Magazin

An der Kante

Garth Risk Hallberg hat ein megalomanes Buch über das dem Untergang geweihte New York der 70er Jahre geschrieben. "City On Fire" ist großartig und 1100 Seiten lang. Hier spricht er über hohe Vorschüsse, überraschende Eingebungen und die seine Liebe zum Chaos.

Herr Hallberg, Ihr Buch „City On Fire“ spielt im New York der 70er Jahre, zu einer Zeit, in der die Stadt durch Kriminalität, Korruption und Arbeitslosigkeit am Abgrund stand. Nun sind Sie für ein paar Monate nach Barcelona gezogen, auf einen Kontinent, von dem man sagt, er sei dem Untergang geweiht. Zieht sie das Desaster an?

Eigentlich bin ich hier, um mein Buch zu promoten. Aber es stimmt schon. Mich interessieren Phasen, in denen die Zukunft nicht sicher erscheint, in denen man nicht voraussagen kann, wie es weitergeht. Es ist noch nicht lange her, so Ende der 90er Jahre, da dachten viele: Jetzt ist die Welt im Gleichgewicht. Der Kalte Krieg ist vorbei, die Wirtschaft läuft, die Banken prosperieren. Was soll noch kommen? Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama rief „Das Ende der Geschichte“ aus, die alten Verwerfungen sind Vergangenheit, das Leben wird zu einem ruhigen Fluss. Ein paar Jahre später fliegen zwei Flugzeuge in das World Trade Center und die alte Unsicherheit ist zurück. Bis heute.

Es ist erstaunlich, wie „City On Fire“ diese gegenwärtige Verunsicherung widerspiegelt, obwohl der Roman von einer anderen Epoche erzählt. Wie kamen sie darauf, die Handlung des Buches in die Zeit der Riots während des schweren New Yorker Stromausfalls 1977 zu verlegen?

Da muss ich weiter ausholen. Ich betreibe jetzt ein bisschen „monday morning quaterbacking“, wie wir in den USA sagen, ziehe also Verbindungen, die sich erst in der Rückschau offenbaren.Bitte.Ich komme aus North Carolina, aus der Provinz. Einer Gegend, die für jeden nur ein paar Wege im Leben bereit hält. Folgt man ihnen, gehört man dazu. Wenn nicht, ist man ein Außenseiter. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich stand dort von Anfang an außerhalb der Gesellschaft. Sehr früh flüchtete ich mich in Bücher, was dazu führt, dass man den anderen noch fremder wird. Ich las vor allem Fantasy-Bücher. Viele davon spielten in New York, einem Ort, den ich sogar auf der Landkarte finden konnte. Ich dachte, das muss der Himmel sein. Als Teenager war ich dann absolut verloren, wie so viele in dem Alter. Velvet Underground rettete mich, und ich entwickelte eine Obsession für Gedichte. Ich wusste, dass es eine Zeit in New York gab, wo meine Helden aufeinander getroffen waren. Allen Ginsberg, Andy Warhol, Patti Smith. Lyrik und Punk. Die 70er. Diese Stadt machte es möglich. Ich wollte da hin und selbst Dichter werden.

Wie lange hat es dann gedauert, bis Sie tatsächlich nach New York gezogen sind?

Lange. Ich tauchte zuerst einmal Mitte der 90er Jahre in die Punkszene von Washington DC ein. Das war die nächste größere Stadt, fünf Stunden entfernt. Jedes Wochenende fuhr ich hin, um etwa Fugazi live zu sehen, eine Band, die ich sehr verehrte. Zu dieser Zeit habe ich auch begonnen, Gedichte zu schreiben. Unglaublich schlechte allerdings.

Sie gaben also den Plan auf, der neue Ginsberg von New York zu werden.

Nicht ganz, aber nicht viel später lernte ich meine heutige Frau kennen. Sie hatte ein Stipendium in Washington. Und ich musste mich entscheiden: Frau oder Stadt. Ich entschied mich für die Frau, weil ich dachte, New York ist in drei Jahren auch noch da. Ich nahm einen bescheuerten, aber gut bezahlten Job an, bei dem ich lange technische Studien zu kurzen technischen Studien zusammenfasste und fragte mich: Was machst du da eigentlich? Nach sechs Wochen hörte ich ein komisches, eintöniges Stimmensummen aus den Nebenzimmern im Büro. Es war gerade das erste Flugzeug ins World Trade Center geflogen. Und dann hieß es, ein anderes sei über dem Pentagon gesichtet worden. Etwa eine Meile von dem Punkt entfernt, wo ich gerade stand. Plötzlich schien alles möglich. Bis zum Weltuntergang. Ein Schock und mit einem Schlag wurde mir klar, dass New York vielleicht in drei Jahren doch nicht mehr da ist, vielleicht nicht einmal am nächsten Tag.

Und dann sind Sie hin.

Es dauert noch einmal zwei Jahre. Aber dann passierte etwas mir bis heute Unerklärliches. Alles vorher erlebte kulminierte in einem Punkt. Ich fuhr mit dem Bus wie so oft vorher von Washington nach New York. Mein iPod war auf Shuffle. Und als wir die Stelle auf dem New Jersey Turnpike erreichten, von der man das erste Mal die Skyline von Manhattan sieht, lief gerade Billy Joels „Miami 2017“. Ich wusste nicht einmal, dass ich das Lied hatte, Joel ist ja nicht gerade Punk. Der Song ist aus den 70ern und handelt vom drohenden Untergang New Yorks. Er ist aber aus der Perspektive des Jahres 2017 erzählt. Die Leute haben die Stadt aufgegeben, im Atlantik versenkt und sind nach Florida gezogen, wo es immer warm und schön ist. Der Song ist wehmütig, so als betrauere er etwas, was für immer verloren gegangen war, was man aber nicht genau greifen kann. Und ich sagte mir: Das ist ein Buch.

Wie meinen Sie das?

Nach dem 11. September, in dieser Phase der Unordnung, waren die Leute sehr offen, sie trugen ihre Seelen außerhalb ihres Körpers. Es sah so aus, als würde aus der Zerstörung etwas Neues entstehen, vielleicht sogar eine neue Weltordnung. Das war natürlich naiv. Aber dieser Moment des kreativen Chaos verband die 70er mit dem Heute. Dieses Gefühl wollte ich festhalten. Mir stand plötzlich ein komplettes Buch vor Augen mit Charakteren, Handlungsläufen, Milieus. Es war faszinierend und gleichzeitig hatte ich eine Scheißangst.

Warum?

Weil es das war, auf was ich immer gewartet hatte. Eine Aufgabe, die mir so dringlich erschien, dass ich sie nicht nicht machen konnte. Ich wusste aber, dass es mein Leben für die nächsten Jahre auffressen würde. Und dachte, wer glaubst du eigentlich, wer du bist. 24 Jahre alt, ein paar Kurzgeschichten geschrieben, die ganz okay waren, und jetzt Großschriftsteller werden und einen dicken Roman wie Thackerays „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ oder Eliots „Middlemarch“ schreiben. Denn so ein umfassendes Ding würde es werden, das war mir klar. Ich traute mich nicht. Wir zogen nach New York, ich hatte ein Stipendium und brachte nebenbei Studenten für einen Hungerlohn bei, wie man Essays schreibt. Ich ging viel spazieren, fuhr Fahrrad durch die Stadt und verfasste Kurzgeschichten.

Es klingt so, als hätte sie sich vor dem Roman gedrückt.

Nein, das war alles Vorbereitung. Vier Jahre später fing ich an. 2007, kurz vor der Finanzkrise, wieder so eine Zeit der Unordnung. Und es stellte sich heraus, dass sich das Universum des Romans von selbst erweitert hatte. Zeitungsberichte, die ich gelesen hatte, Wandschmierereien, Bilder, Geschichten, die mir erzählt wurden, Witze, Millionen von kleinen Teilen fügten sich zu einem Buch.

Ein megalomanes Buch mit einem Dutzend Hauptfiguren, mehreren gleichzeitigen Handlungen und Nebenhandlungen, die in allen fünf Stadtteilen New Yorks spielen.

Ja, wie gesagt, es war klar, dass ich die Stadt in Prosa verwandeln wollte. Und für mich fühlte es sich absolut richtig an. Ich hatte große Freude beim Schreiben, aber ich erzählte niemandem davon. Denn es war ein völlig aus der Zeit gefallenes Projekt. Alle sprachen von den kurzen Aufmerksamkeitsspannen der Leute, die Kultur in kleinen Happen präsentiert haben wollen, Buchläden schloßen, die Verlage waren in der Krise, und ich schrieb ein Buch mit über 1000 Seiten. Ich wollte niemanden die Möglichkeit geben, mich auszulachen. Ich war erst einmal zufrieden damit, den Mut gefunden zu haben, das Buch anzugehen. Dachte aber nicht, dass es jemals erscheinen würde.

Wann änderte sich das?

Nach einiger Zeit gab ich meiner Frau die ersten 150 Seiten, und sie war sehr begeistert. Danach ein paar Freunden. Ich wartete immer darauf, dass jemand sagt: Was willst du mit dem Mist. Aber der Satz kam nicht. Und irgendwann nahmen die Dinge ihren Lauf.

Verlage lieferten sich ein Wettbieten, das mit einem Vorschuss von zwei Millionen Dollar für Sie endete.

Unglaublich. Ja, irrsinnig. Keiner ist darüber mehr überrascht als ich.

Spürten Sie Druck? Wie war es „City On Fire“ aus der Schreibstube an die Öffentlichkeit zu lassen?

Nein. Druck nicht. Ich hatte beim Schreiben das Gefühl, mein Innerstes in dieses Buch zu tragen. Unverstellt, es fühlte sich echt an. Ich denke, wenn man das Buch liest, spürt man die Freude und die Angst, die ich beim Schreiben hatte. Das findet beim Publikum Anklang. Und ein Buch kommt ja auch nicht an die Öffentlichkeit, es wird auf keiner Bühne präsentiert, sondern es wandert in die Privatgemächer der Leser, die eine persönliche Beziehung zum Buch aufbauen, zu der man keinen Zutritt hat. Das ist etwas sehr Pures und Schönes.

Der Grundton von „City On Fire“ ist melancholisch. Einmal heißt es „Jeder Mensch ist eine Kapsel“. Jeder ist also auf sich gestellt, aber verbindet uns nicht genau dieses Alleinsein?

Ja, das ist sicher eine Erfahrung, die wir alle gemeinsam haben. Wir oszillieren ständig zwischen zwei Polen, bei mir wechseln sie manchmal stündlich, ich bin anderen gegenüber offen und dann wieder verschlossen. Wir sind im Transit, auf dem Weg zwischen einem Zuhause, wo wir nie waren, zu einem Zuhause, das wir nie erreichen werden. Das ist traurig und hart. Aber man sollte diesen Schwebezustand akzeptieren.

Wir sollten also das Chaos umarmen?

Ja, zu einem gewissen Grad. Natürlich muss man sich einerseits schützen. Ohne einem bestimmten Maß an Sicherheit, kann man nicht leben. Andererseits hilft es aber auch nicht, alles unter Kontrolle halten zu wollen oder zu glauben, wenn man nur die eine Religion, die Kunst, den Sport oder den Job finden würde, die die eigene Identität festigen, dann würde man sich nicht mehr so einsam und abgefuckt fühlen. So funktioniert das Leben nicht. Deswegen sollte man auch nie Leuten vertrauen, die glauben, auf alles eine Antwort haben. Der nächste Einschlag kommt bestimmt und sie müssen sich neu orientieren. Denn wie gesagt, wir, unsere Gesellschaft, die Welt tanzen ständig zwischen den Polen Ordnung und Chaos. Das Buch ist meine Entdeckungsreise die Mechaniken dieses Tanzes zu erkunden.

Neon Magazin

Wo ist zuhause?

Heimat ist in unserer mobilen Welt zu einem diffusen Gefühl geworden. Um es zu fassen, hilft es nicht, sich immer mehr zurückzuziehen. Man sollte sich dem Fremden aussetzen.

Vor einigen Jahren unternahm ich eine Reise, die mich an einen Ort führen sollte, den ich in meinem Leben nie hatte aufsuchen wollen. Das All-Inclusive-Resort am Mittelmeer? Eine Entzugsklinik in den Hollywood Hills? Nein, ich besuchte tatsächlich ein deutsches Restaurant im Ausland. Chinesische Reisegruppen, die in Europa nach authentischen Sichuan-Menüs suchen, deutsche Touristen, die auf der ganzen Welt am liebsten Kassler und Kraut essen, hatte ich immer belächelt. Wie beschränkt, wie spießig, wie wenig weltmännisch kamen mir diese Reisenden vor, die immer nur in Gruppen auftraten und sich in der Ferne an Vertrautes krallten. Nun war ich plötzlich einer von ihnen. Auf der Rucksackreise durch Thailand hatte ich mich wochenlang von Phat Thai und Pancakes ernährt (Pancakes sind ja das Globalisierungsgericht überhaupt, man bekommt sie an den Globetrotter-Drehkreuzen in Asien und Südamerika, in Paris und New York). Ich jedenfalls hatte keine Lust mehr auf Global Asian Fast Food und ging in die Filiale einer Münchner Brauerei in Phuket. Die Einrichtung und die Fantasiedirndl der thailändischen Bedienungen basierten nur auf einer vagen Ahnung, wie Bayern aussehen könnte. Der Plastikbavarismus gefiel mir aber gut. Ich bestellte Bier und Kartoffelsuppe. Das Bier schmeckte, wie es das bayerische Reinheitsgebot seit 1516 vorschreibt, aber erst der Geruch der Kartoffelsuppe löste in mir etwas aus, das weder Alkohol noch Ambiente gelang. Es war ein Moment warmer Geborgenheit, der mich davontrug: Draußen schneit es, das Licht ist gedimmt, die Familie hängt auf der Couch he rum, die Zeit steht still, die Suppe ist fertig. Ich bin daheim. Schnitt. Ich probierte die Suppe, sie schmeckte abscheulich, der Moment war vorbei.

War ich in diesem Moment, 8500 Kilo meter entfernt von meinem Geburtsort, irgendwie zu Hause? Und: Wo ist man daheim, wenn man für Geschäftsreisen, Urlaube, Wochenendtouren und Spontantrips permanent unterwegs ist und pro Jahr in ein paar Dutzend Betten schläft?
Die Heimat, schreibt der Autor Bernhard Schlink in seinem Aufsatz »Heimat als Utopie«, hat weder einen bestimmten Ort, »noch ist sie einer«. Unter Heimat versteht Schlink eigentlich Heimweh, eine Sehnsucht nach Vergangenem, eine Verklärung, die in Wirklichkeit meistens schaler ist als in der Vorstellung. Das kennt jeder, der für eine Woche zu seinen Eltern fährt, sich eine entspannte Zeit wünscht, dann in eine unfassbare Trägheit verfällt und ab dem zweiten Tag Ausbruchspläne schmiedet, weil die Eltern-Kind-Schemata doch nicht überwunden sind.

Die meisten modernen Nomaden würden nach Schlink auf die Frage »Und was ist für dich so Heimat?« wohl nicht antworten: Deutschland, Hessen, der Hunsrück oder Darmstadt. Stattdessen zitiert man einen Elvis-Song: »Home is where the heart is«. Da, wo Familie und Freundeskreis sind. 59 Prozent der Deutschen sagten in einer aktuellen Umfrage, dass sie Heimat mit den Menschen, die sie lieben und mögen, verbinden. 44 Prozent denken an ihren Wohnsitz, 33 Prozent an den Ort, »wo ich aufgewachsen bin«. Dort kennt man sich aus, findet auf Autopilot zum Supermarkt und wird nie vergessen, dass man auf dieser Brücke seine erste Liebe zum ersten Mal getroffen hat. Der biografisch erworbene Orientierungssinn bedeutet aber leider nicht, dass am Heimatort eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht, glücklich zu werden. Der eigentliche Heimatort verliert an Bedeutung. Dörfer, Städte, Wohnungen sind oft nur noch Übergangsstationen zum nächsten Karriereschritt oder zur nächsten Beziehung. Was bleibt, sind zum einen die Menschen, die einem heute auch aus der Ferne nahe sein können. In Familien-Whatsapp-Gruppen und Skype- Gesprächen sind Distanzen kaum mehr spürbar. Zum anderen sind da die Freunde und Kollegen, die man am jeweiligen Wohnort zur Ersatzfamilie erklärt und bei denen man sich geborgen fühlt.

Der Begriff Geborgenheit ist übrigens in keine andere Sprache direkt übersetzbar, im Englischen kommt ihm »to be in peace« am nächsten. Um diesen speziellen, diffusen Frieden zu spüren, flieht man vor der kalten Arbeitswelt in ein kuscheliges Privatleben. Deswegen fühlen sich viele von uns auch an urban-ruralen Orten wie The Barn in Berlin so wohl, einem Tante-Emma-Ladencafé, in dem es eine übersichtliche Warenauswahl, Regale aus unbehandeltem Holz und einen Verkäufer gibt, der Schürze trägt und kein billiges Logo-Shirt made in China. Heimat wird zum Projekt, zum Produkt, das man im Geiste erschafft und mit dem man seine Umgebung auspolstert. Gleichzeitig wissen wir, dass das schöne Licht, die altmodischen Möbel und die anderen Landlebenzitate nichts mit uns zu tun haben. The Barn ist eine Fiktion. Heimat kann man nicht kaufen.

Zwischen 1938 und 1947 schrieb Ernst Bloch in »Das Prinzip Hoffnung«: »Es geht um den Umbau der Welt zur Heimat, ein Ort, der allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war.« Dieser Satz gilt heute immer noch, oder besser: wieder. Denn immer, wenn sich eine Gesellschaft und Kultur grundlegend ändert, wollen die Leute die Welt am Weiterdrehen hindern. Im späten 19. und 20. Jahrhundert zogen aufgrund der Industrialisierung immer mehr Menschen in die Städte, weil sie auf dem Land keine Jobs mehr fanden. Die Anonymität und Enge der neuen Metropolen, die Eintönigkeit der Arbeit in der Fabrik zehrte an den Städtern, und sie wünschten sich fort. So wurden das Land und die Natur zu Sehnsuchtsorten, zur eigentlichen Heimat der Deutschen, wo Brauchtum, Tradition, Gemeinschaft und ehrliches Handwerk noch geachtet wurden (das bildete man sich zumindest ein). In der Stadt war so viel krank, in den Auen und Gauen so viel gesund und rein. Die Fantasie vom Landleben ignorierte natürlich die Härten, die den Arbeitsalltag der Bauern ausmachten, genauso wie die ausgrenzende Spießigkeit in den Kleinstädten, aber in der Konstruktion von Heimat ist der Mensch ja meistens auf einem Auge blind.

Das Jahr 2015 hat natürlich nicht direkt etwas mit den 1930ern zu tun, das wäre polemisch. Aber auch heute erleben wir einen Umbruch – und auch heute soll Vertrautes das Neue bekämpfen. Man wünscht sich nicht nur ländliche Idylle, sondern resigniert vor den Herausforderungen der Gegenwart.Da ist der Unternehmensberater, der von Montag bis Donnerstag bei einem Weltmarktführer in der Provinz stationiert ist und jedes Wochenende in der archaischen Berghain- Orgie untertaucht. Da ist die Programmiererin, die als »Tele-Pendlerin« von ihrem Computer in Deutschland aus für eine Firma in China arbeitet und abends in ihrem Häkelkreis vor Ort aktiv ist. Da ist das junge Paar, das eine Fernbeziehung zwischen Frankfurt und San Francisco führt und sich damit tröstet, gemeinsam via Skype »Der kleine Prinz« zu lesen. Da ist der syrische Flüchtling, der neu ist in Hamburg und sich freut, dass er im Stadtteil St. Georg kaum deutsch sprechen muss.

Die Geschwindigkeit der Datenübertragung und das schnelle Aufeinanderfolgen der Krisen, die Untergangsszenarien des Klimawandels und die Ungerechtigkeiten des Finanzkapitalismus übersteigen unsere Aufnahmefähigkeit. »Da blicke ich eh nicht mehr durch!« oder »Kann man ja sowieso nix machen!« sind Phrasen, die man heute oft hört, wenn in der U- Bahn, an Stammtischen oder auf der WG Party über die Gegenwart diskutiert wird. Der Autor und Künstler Hans-Christian Dany beschreibt in seinem Buch »Schneller als die Sonne. Aus dem rasenden Stillstand in eine unbekannte Zukunft« jedoch sehr einleuchtend, dass wir gar nicht in einer beschleunigten Welt leben, sondern in einer gelähmten. An den Börsen mögen Algorithmen unzählige Aktienpakete so schnell handeln wie nie zuvor – die Mechanismen des Kapitalismus insgesamt bleiben aber unverändert. Gleiches gilt für Demokratie und Arbeitswelt. Wieso gehen die meisten von uns noch jeden Tag ins Büro, obwohl wir technisch gesehen von jedem Ort der Welt aus arbeiten könnten?Die verbreitete Zukunftsangst führt laut Dany nicht zu Innovationen, die man braucht, um die neuen Herausforderungen zu bewältigen. Lieber klammern wir uns an Bewährtem fest, auch wenn es längst unbrauchbar geworden ist. Dany schreibt: »An die Stelle der Beschleunigung, bei der eine Kraft etwas in Bewegung setzt, ist eine kraftlose, selbstbezügliche Rotation getreten, deren nervöser Aktionismus die Illusion von Geschwindigkeiten vermittelt.«

Dieses Kreisen um uns selbst und um die Dinge und Menschen, die uns vertraut sind, soll uns gegen die Krisen absichern. Das beginnt ganz tief in uns drinnen. In der Psychotherapie lernt man mit dem Unheimlichen des Unbewussten fertigzuwerden, mit den Neurosen und Traumata, die verhindern, dass man in sich selbst heimisch wird: My home is my brain? In der Yoga-, Tantra- oder Körpertherapiestunde wird der Körper in Balance gerenkt. Und wenn man ganz genau hinhört, hauchen Yogis nicht »Om«, sondern »hooome«. Alle wollen ganz verzweifelt »bei sich sein«, aber das Smartphone-Navi kennt den Weg dorthin nicht.

In diesen Wochen passieren wieder Dinge, die ich nie in meinem Leben erleben wollte. Einige meiner Bekannten kochen Gemüse und Obst in riesigen Gläsern ein, als würde ein harterWinter vor der Tür stehen. Ein anderer Bekannter hat sich bei Manufactum eine Axt gekauft, um einen Baum zu fällen. Er brauche Holz für seinen Kachelofen, sagt er – trotz Zentralheizung. Und ich selbst habe keine Lust mehr, auszugehen, sondern würde am liebsten zweimal die Wocheein Abendessen veranstalten, um alle meine Freunde zu versammeln. Wir kaufen regional ein, weil wir hoffen, dass es den Bauern und Unternehmern aus der Umgebung hilft. Wir trinken Whisky vom Schliersee und Gin aus dem Spessart mit Tonic aus Berlin und beschweren uns über die Folgen von TTIP, weil vielleicht bald Schwarzwälder Schinken in Tennessee hergestellt wird (was sagen eigentlich die Londoner über den derzeitigen globalen Ginboom?). Es geht bei all diesen Trends und Spleens um die Sehnsucht nach Geborgenheit, um das wohlige Gefühl, dass alles seinen Platz und seinen Rahmen und seine Ordnung hat. Ist das Heimat?

Dieses Gefühl jedenfalls ist flüchtig wie eine Wolke und formt sich immer wieder neu. Wer versucht, es festzuhalten und in eine stabile Form zu gießen, der scheitert jämmerlich. Denn die Probleme der Welt, das weiß jeder, kann man nicht vom Bett aus lösen. Natürlich ist es dort wohlig warm und gemütlich, aber irgendwann muss man eben doch aufstehen. Und ganz ähnlich verhält es sich mit der Heimat. Wer sich an der Schönheit der Welt erfreuen und eine wirklich tiefe Bindung zu ihr entwickeln will, muss seinen Kokon hinter sich lassen und die Erfahrung des Fremdseins machen. Amelia Earhart, die als erste Frau alleine über den Atlantik flog und sicher einer der freisten Menschen aller Zeiten war, sagte einmal: »Je mehr man tut, fühlt und sieht, desto mehr ist man in der Lage, zu tun, und desto mehr wird man die wesentlichen Dinge wie Heimat, Liebe und verständnisvolle Freundschaft wirklich schätzen.« Ablehnung entsteht durch Unsicherheit und Unsicherheit entsteht durch Unwissenheit. Je mehr man versteht, je mehr man erfahren und erlebt hat, desto weniger Dinge werden einem unheimlich erscheinen. Je öfter man seine Heimat verlässt, desto größer wird sie.

Im Jahr 2015 kommen wohl rund eine Millionen Menschen aus Afghanistan, Syrien und anderen Ländern in Deutschland an, weil sie ihre Heimat verloren haben. In vielen Städten gehen Deutsche auf die Straße und rufen alte Hassparolen, weil sie sich vor einer Unterwanderung der deutschen Kultur fürchten, ohne zu wissen, was diese Kultur eigentlich ausmacht. Sie nennen es Heimat. Doch das ist nur eine Phrase, hinter der sich Unsicherheit und Entfremdung verbergen. Die Pegida-Bewegung krankt nicht an einer Überdosis Heimatgefühl, sondern weiß gar nicht, was das sein soll. Vielleicht sollten ihre Anhänger folgende Zeilen aus Karen Joistens »Philosophie der Heimat« lesen: »Heimat steht im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Unsicherheit, Geborgenheit und Ungeborgenheit, Nähe und Ferne, Vertrauen und Misstrauen. Die Geborgenheit und Sicherheit wird in immer wieder neuen Erschütterungen in Frage gestellt, wodurch ein sentimental-naives Festhalten an dem, was man schon hat, verhindert wird. Die Bindung wird durch das Fremde vertieft und steht dadurch einem Sich-Öffnen und Freiwerden des Menschen nicht im Weg.« Nicht der Islam bedroht die Freiheit der Pegida-Anhänger, sondern ihre Unfähigkeit, sich ihm zu öffnen. Umgekehrt gilt natürlich für viele Flüchtlinge, dass sie nie in Deutschland ankommen werden, wenn sie große Teile des Alltags auf den Straßen für falsch erklären.

Der Mensch, das scheint uns in den Genen zu liegen, will, dass alles so bleibt, wie es immer schon war. Wie irreal und wie langweilig. Es ist, als würde man jahrelang in dieselbe Bar in der Heimatstadt gehen, in der immer dieselben Typen herumhängen, die immer dasselbe trinken und sagen. Dann jedoch stirbt der Barkeeper Erwin an Bauchspeicheldrüsenkrebs und ein anderer übernimmt den Laden, verändert die Inneneinrichtung und die Musikplaylisten und lockt neue Gäste an. Man kann dann noch so oft motzen: »Ich will aber meine alte Bar wieder und den Erwin auch.« Es ist vorbei. Es hilft nichts, man muss ein paar Dinge bewahren, wie den einen Drink, den man immer trinkt, sich ansonsten anpassen und so einen neuen Raum schaffen. Heimat ist nichts Selbstverständliches, nichts, was einfach so bleibt, nichts Unveränderliches. Die Eltern sterben, die Frau, der Mann, die Freunde ziehen weg, die Stadt wird in Schutt und Asche gebombt. »Home is where the hatred is« heißt ein Song von Gil Scott- Heron. So kann es schon auch laufen. Jede sentimentale Erinnerung, jeder schöne Ort verschwindet irgendwann oder verkehrt sich gar ins Gegenteil. Dort an der Brücke haben wiruns zum ersten Mal geküss t. Und Jahre später getrennt.Wer sich zu Hause fühlen möchte, muss sich beständig erneuern und die Konfrontation mit dem Fremden, dem Unbekannten suchen. Unterlässt man das, dann verliert man seine Heimat und kann sie auch nicht wiederherstellen. Selbst wenn man nie von zu Hause fortgegangen ist.

Interview Magazin

»Wir müssen den Drogenmarkt selbst übernehmen«

Ein Gespräch von Benedikt Sarreiter mit dem britischen Bestseller-Autor Johann Hari über die Irrwege des »War on Drugs« in der Januarausgabe von Interview

Der Film "Reefer Madness" (1939) stellte Mariuhana als Horrordroge dar. Er war gezielte Propaganda der amerikanischen Drogenbehörde.

Herr Hari, Sie haben für ihr Buch über den „War On Drugs“ drei Jahre recherchiert, sind fast 50000 Kilometer gereist, waren in einem Dutzend Ländern. Was hat Sie an dem Thema derart gepackt?

Eine meine frühesten Erinnerungen ist, dass ich einen meiner Angehörigen aufwecken will, und er einfach nicht reagiert. Ich verstand das damals nicht, ich war ja noch ein Kind. Erst später wurde mir klar, dass es in meiner Familie Suchtprobleme gibt. Ich schrieb dann mehrere Artikel über Drogen, machte die Sache mit meiner Familie durch, dachte, ich wüsste alles zu dem Thema. Doch als ich mit der Recherche für das Buch anfing, erkannte ich schnell: Du hast keine Ahnung. Das fing schon damit, dass ich immer dachte, der „War On Drugs“ hätte vor 40 Jahren begonnen.

Als ihn Richard Nixon ausrief, um die Welt von allen Drogen zu befreien…

Genau, aber das stimmt nicht. Dieser Krieg hat viel früher angefangen. Vor etwas mehr als 100 Jahren. Bis 1914 waren Substanzen wie Opiate, Kokain oder Marihuana nicht verboten. In Deutschland zum Beispiel, dem „Vaterland des Rausches“, wie Timothy Leary es nannte, weil dort Heroin, Kokain und Crystal Meth designt worden waren, konnte man in eine Apotheke gehen und sich mit Substanzen versorgen.

Warum änderte sich das dann?

Man muss dazu wissen, dass die Verbotswelle von den USA ausging. Als ich in die Archive schaute, war ich überrascht. Die Motive waren damals andere als heute. Es ging nur nebensächlich um die Angst vor süchtig machenden Stoffen. Vielmehr war der Grund rassistische Hysterie. Man hatte Angst, dass die afroamerikanische und die chinesischen Minderheiten Drogen verwenden, um mit dem Handel gesellschaftlich aufzusteigen und um Weiße zu attackieren. Mit einem Drogenverbot wollte man sie auf ihrem angestammten Platz halten, also unten. Das war Thema in offiziellen Senatsdebatten.

Eine prägende Figur der Zeit war Harry Anslinger.

Ja, er war Chef des Federal Bureau of Narcotics, der damaligen Drogenbehörde.

Was für ein Typ war Anslinger?

Harry Anslinger ist wahrscheinlich einer der einflussreichsten Menschen des letzten Jahrhunderts, den keiner kennt. Er übernahm die US-Behörde, die für die Alkoholprohibition zuständig war, in dem Moment als die Prohibition vorbei war. Seine Leute hatten plötzlich nichts mehr zu tun. Bevor er seinen Job begann, hielt er Cannabis nicht für sehr gefährlich. Doch danach erfand er regelrechte Horrorgeschichten, sagte, dass Mörder, die eindeutig geistesgestört waren, unter dem Einfluss von Cannabis getötet hatten. Oder dass junge Afroamerikaner mit Marihuana weiße Mädchen verführen und in den Wahnsinn treiben.

Und die Leute glaubten ihm?

Es gab damals in der amerikanischen Bevölkerung zwei tiefgreifende Abneigungen. Zum einen verabscheute man Süchtige. Anslinger bezeichnete sie als ansteckend, böse und abstoßend. Zum anderen war Rassismus, wie schon erwähnt, Alltag. Und Anslinger galt damals als noch rassistischer als alle anderen, das musste man erst einmal schaffen. Er benutzte das N-Wort in offiziellen Schreiben und er verfolgte die Sängerin Billie Holiday persönlich. Holiday war als Kind missbraucht worden, war Kinderprostituierte und dann heroinabhängig. Als sie das erste Mal den Anti-Lynchjustiz-Song „Strange Fruit“ in Midtown Manhattan aufführte, verbot Anslingers Behörde ihr, es ein weiteres Mal zu tun. Sie weigerte sich und stand daraufhin auf der Abschussliste. Anslinger war hinter ihr her, bis sie auf dem Sterbebett lag. Er war ein Kind seiner Zeit, nur radikaler, getriebener.

Nun ist es eine Sache, Drogen im eigene Land zu verbieten, wie schaffte es die USA den „War On Drugs“ global auszuweiten?

Die Verantwortlichen sahen, dass trotz schärferer Gesetze, die Drogen einfach nicht verschwanden. Sie mussten von außen einfließen. Der Kampf konnte also nur gewonnen werden, wenn alle mitmachen. Nicht selten wurde Zwang ausgeübt. Mexiko zum Beispiel weigerte sich. Die Regierung dort sagte damals, Cannabis ist nicht wirklich schädlich, Süchtige brauchen Fürsorge, und wenn wir Drogen verbieten, werden Gangs den Handel übernehmen. Wie vorausschauend, nicht wahr? Also kappte die USA den Export von Morphium und anderen Opiaten für den medizinischen Gebrauch nach Mexiko. Schwerkranke Mexikaner verendeten unter Höllenqualen. Die Regierung lenkte ein.

Seit dieser Zeit haben die USA über eine Billionen Dollar für diesen Krieg ausgegeben, andere Regierungen wie die deutsche Milliarden Euro. Was hat es gebracht?

Das Gegenteil von dem, was man erreichen wollte. Drogen? Gibt es immer noch. Der Handel ist nur von kriminellen Gangs übernommen worden. Ein Effekt des „War On Drugs“ ist eine immer heftiger werdende Brutalität. Ich habe mit einer ehemaligen Drogen-Polizistin gesprochen, die mir erzählte, dass sie während ihres Dienstes eine Sache sehr überraschte. Wenn man einen Vergewaltiger verhaftet, gehen die Vergewaltigungen in der Gegend zurück. Bei einem Dieb, die Diebstähle. Verhaftet man aber einen Dealer, steigt die Mordrate.

Warum?

Nach der Verhaftung beginnt der Kampf um den Turf. Schauen Sie, wenn wir beide uns jetzt entscheiden würden, eine Flasche Wodka zu stehlen, und der Ladenbesitzer uns erwischen würde, dann holt er die Polizei und wir werden verhaftet. Ein Koks-Dealer kann das nicht. Er kann Diebstahl und Konkurrenz nur durch Abschreckung einschränken. Sein Ruf muss so mies, so schrecklich sein, dass niemand wagt, sich mit ihm anzulegen. Die Spirale der Gewalt dreht sich somit immer schneller.

Welchen Effekt hat der War On Drugs noch?

Er verändert die Reinheit der Drogen, sie sind meistens gestreckt, und deren Potenz. Bevor in den USA Alkohol verboten wurde, waren die beliebtesten Drinks Bier und Wein. Während der Prohibition Whiskey und Gin. Danach wieder Bier und Wein.

Warum?

Wenn man verbotene Substanzen schmuggeln will, muss man den größtmöglichen Kick auf kleinstem Raum verstauen können. Soll man lieber Bier für hundert Leute oder Schnaps für tausend transportieren? Die Antwort ist eindeutig, oder? Vor der Drogenprohibition wurden Koka in Softdrinks konsumiert, danach als viel stärkeres Powder-Kokain. Gleiches gilt für Marihuana, das heute vor allem als sehr potenter Superskunk verkauft wird. Ich glaube, die Leute würden viel lieber mildere Varianten konsumieren, aber sie bekommen sie nur schwer.

Warum nehmen Menschen eigentlich Drogen?

Es ist ein tiefer menschlicher Antrieb. Kinder drehen sich im Kreis bis ihnen schwindlig wird. Jede Gesellschaft hat bisher nach natürlichen Rauschmitteln gesucht und sie verwendet. Außer die Inuit in Teilen der Arktis, die keine gefunden haben. Aber sie haben dann solange gehungert bis sie in andere Bewusstseinszustände gekommen sind. So tief ist der Wunsch in uns verankert, unser Bewusstsein zu manipulieren. Und in den meisten Fällen ist das auch nicht schädlich. Das gibt selbst das UN Office for Drugs and Crime zu, das 90 Prozent des weltweiten Drogenkonsums eigentlich für unbedenklich hält.

Aber Menschen können abhängig werden, so unschädlich sind die Stoffe ja dann doch nicht.

Ja, bis vor vier Jahren hätte ich auch noch gesagt, dass es etwa allein an Heroin, also an der Substanz selbst liegt, dass Menschen nach ihr süchtig sind.

Was hat sich geändert?

Man muss wissen, dass die bis heute einflussreichen Untersuchungen zum Suchtpotential von Heroin oder Kokain in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gemacht wurden. Es waren Rattenexperimente. Die Tiere wurden in einen Käfig mit zwei Wasserflaschen gesteckt. In einer war das Wasser mit der Droge versetzt. Von diesem tranken die Ratten bis sie sich buchstäblich tot gesoffen haben. Ergebnis: In den Substanzen müssen chemische Harken verborgen sein, die uns antreiben, immer mehr von dem Stoff zu wollen.

Klar.

Wirklich? Es stellt sich die Frage, warum Patienten, die in meinem Heimatland Großbritannien eine künstliche Hüfte erhalten und über einen längeren Zeitraum gegen die Schmerzen Diamorphin bekommen, nur sehr selten danach süchtig werden. Diamorphin ist medizinisches Heroin, es ist viel reiner als das von der Straße.

Warum?

In den 70er Jahren wiederholte der Psychologieprofessor Bruce Alexander aus Vancouver den Rattenversuch. Aber er baute den Ratten einen Rattenhimmel in den Käfig. Im Rat Park gab es viele Freunde, viel Sex, Käse ohne Ende, Spielzeug. Die Ratten rührten in der Folge das Heroin-Wasser kaum an, keine starb wie vorher an einer Überdosis. Alexander fragte sich: Was wenn Sucht nicht von der Substanz ausgelöst wird, sondern viel mehr eine Adaption an die jeweilige Lebenssituation ist? Sehen Sie, wir beide könnten jetzt statt Kaffee und Cola auch eine Flasche Wodka zusammen trinken. Wir machen es aber nicht, weil wir präsent in unserem Leben sein wollen, weil wir zufrieden mit ihm sind. Es gibt aber Leute, die  traumatisiert oder depressiv sind, sie wollen nicht in ihrem Leben sein, sie suchen eine Verbindung, die sie kurzzeitig glücklich macht. Das kann Glücksspiel, Pornographie oder Heroin sein. Egal. Diese Leute sind krank, sie brauchen Liebe und Zuwendung und nicht Repression und Verfolgung.

Wenn Alexanders Ergebnisse so eindeutig sind, warum haben sie dann bis heute so wenig Einfluss auf die Drogenpolitik?

Sie hatten Einfluss. Zum Beispiel in Portugal. Vor fünfzehn Jahren war dort fast ein Prozent der Bevölkerung heroinabhängig, eine unglaublich hohe Zahl. Der Regierung war klar: Wir müssen etwas ändern. Und sie machten etwas, was vorher noch nie jemand gewagt hatte. Sie fragten doch tatsächlich Wissenschaftler, wie man am besten vorgeht. Dabei spielte auch Rat Park eine Rolle. In der Folge dekriminalisierte Portugal alle Drogen, das heißt deren Gebrauch war nicht mehr strafbar. Verkauf und Herstellung aber weiterhin. Das Geld, das vorher in die Verfolgung der User geflossen war, wurde nun in Entziehungsmaßnahmen und vor allem in ein Jobprogramm für Süchtige gesteckt. Heute ist die Übertragungsrate von HIV dramatisch gesunken, ebenso die Zahl der Überdosen und der kleinkriminellen Vergehen. Natürlich befürchteten damals viele Portugiesen, dass ihr Land nun zum Paradies des Drogenkonsums werden würde. Nichts davon passierte.

Und trotzdem sind die meisten Menschen auch heute noch gegen eine liberalere Drogenpolitik. Warum?

Ich glaube, das liegt an mehreren Dingen. Zum einen an Fehlinformationen, auch ich hatte vor dem Buch viele falsche Vorstellungen. Zum anderen kennen die meisten Menschen jemanden, der Probleme mit einer Droge hat. Man wünscht sich, dass jemand kommt, und ihn oder sie davon abhält, sie weiter zu nehmen und der verhindert, dass man sie kaufen kann. Irgendjemand muss es doch erzwingen können. Ich kenne dieses Gefühl aus eigener Erfahrung. Ich weiß auch, dass Süchtige frustrierend sein können, dass es manchmal schwierig ist, liebevoll mit ihnen umzugehen. Aber als ich erfuhr, dass Süchtige auch Helden sein können, so wie Billie Holiday…

…die „Strange Fruit“ trotz aller Drohungen immer weiter aufführte…

… da half mir das sehr. Mein Blick auf sie veränderte sich. Er wurde sanfter. Und so sollte auch unsere Drogenpolitik sein und unser Umgang mit den Menschen, die sie konsumieren. Man sollte sie nicht der Willkür krimineller Gangs überlassen. Es bleibt uns eigentlich nur eines übrig: Wir müssen den Markt wieder selbst übernehmen und damit die Kontrolle.

Süddeutsche Zeitung Magazin Stil Leben

Das ist ja der Hummer

Jetzt beginnt die Hummer-Saison. Das teure Tier ist ein wenig seltsam. Die Beziehung des Menschen zu ihm auch

Hummer führen ein merkwürdiges Leben. Wenn es der Zufall erlaubt. Denn von rund 10.000 geschlüpften Larven, die anfangs im Salzwasser treiben, reift nur eine zum erwachsenen Krustentier. Planktonfresser schlucken einen Großteil der anderen. Nach Wochen als driftende Beute sinken die verbliebenen Hummer, nun ein paar Zentimeter groß, zum Boden der Ozeane, verstecken sich, häuten sich wiederholt, wobei manche verenden, weil sie nicht genug Kraft haben, ihren alten Panzer zu verlassen. Bis der neue sich verhärtet, sind sie verletzlich, soft wie ein Shrimp auf einem Caesar Salad; köstliche Happen für Kabeljau und Heilbutt. Ab und zu kommt ein Artgenosse vorbei und pinkelt einem anderen ins Gesicht. So kommunizieren sie. »Verschwinde!« oder »Lass uns Liebe machen!«, Hummer riechen Botschaften im Urin der anderen. Häutung, Seesterne fressen, Häutung, pinkeln. So geht das fünf oder auch zehn Jahre. Dann entdecken sie einen leblosen Hering, packen ihn und sind gefangen. In einem Käfig schweben sie aus der Dunkelheit ans Licht. Eine Handschuh-Hand. Messen. Richtige Größe. Wassertank. Flug nach China. Sprudelnder Kochtopf in der Küche des »Ritz-Carlton«, Shanghai. Panzer rot. Tot.

Der Hummer mag allen Gefahren der Meere trotzen, dem Menschen entkommt er nicht. Unser Appetit auf ihn ist zu groß. Seltsam ist nicht nur das Leben des Hummers, sondern auch unser Verhalten ihm gegenüber. Der Mensch, selbst ernanntes Wesen der Vernunft, wird sonderbar, wenn er auf ihn trifft. Gierig. Grausam. Gerade jetzt. Die Hummersaison steht an, im Herbst und Winter, vor allem zu Weihnachten, wird viel Hummer gegessen. In Asien steigt die Nachfrage enorm. Seltsamerweise hilft die Klimaerwärmung dem Hummer. Sie könnte ihn aber auch bald vertreiben. Der Hummer ist ein Symbol für den Irrsinn des Menschen.

Vor zehn Jahren importierte China gerade einmal 15 Tonnen lebenden, gefrorenen oder in Dosen konservierten Hummer, 2014 waren es 8.465 Tonnen, ein Anstieg um das 564-Fache. Im selben Zeitraum hat Malaysia seine Einfuhr um das 60-Fache gesteigert, Südkorea verdreifacht, Taiwan verdoppelt. Der Hummer steht in Asien sinnbildlich für den westlichen, luxuriösen Lebensstil, dem dort viele nacheifern. In Deutschland blieb die Einfuhr von Hummer mit 50 bis 100 Tonnen stabil. Den asiatischen Hunger auf die delikaten Krebstiere stillen zum größten Teil die Fischer der nordamerikanischen Ostküste. Es trifft sich gut, dass dort derzeit so viel Amerikanischer Hummer (Homarus americanus) aus dem Atlantik gezogen wird wie nie zuvor. Besonders im US-Bundesstaat Maine, dort ist Hummer inzwischen die wichtigste Handelsware: Im Vergleich zum Ende des 20. Jahrhunderts haben sich die Fangraten nahezu verdoppelt. Das liegt vor allem daran, dass der Kabeljau aus der Region nahezu verschwunden ist. Die Fischer hatten zu viel davon aus dem Meer gezogen. Außerdem erwärmt sich der Golf von Maine schneller als fast alle anderen ozeanischen Gebiete der Welt. Dem Kabeljau wurde es zu heiß, der Hummer dagegen erblühte. Nicht nur weil einer seiner Hauptfeinde verschwand, sondern weil er im wärmeren Wasser jetzt auch schneller wächst, und die Hummerweibchen viel früher geschlechtsreif werden. Der Klimawandel hilft dem Hummer, von der Ostküste bis hinauf nach Kanada wimmelt es von ihm. In Maine und an der kanadischen Ostküste haben Fischer größere Boote und Ausrüstung auf Kredit gekauft – in der Hoffnung auf lang währende Superfänge, stabile Märkte, ein Klima in Balance und unstillbaren asiatischen Hunger. Es ist schon verrückt: Weil der Mensch enthemmt fliegt, Auto fährt und das Bruttosozialprodukt steigert, kann er nun umso hemmungsloser Hummer essen. Nur, wie lange noch?

Im 17. Jahrhundert verspeisten die Niederländer so lange Hummer, bis ihre Küsten leergeräumt waren. Überfischung ist kein Phänomen der Moderne. Die Norweger, die lieber Fisch aßen, sprangen ein und entwickelten die erste Hummerexportindustrie. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein versorgte Norwegen hauptsächlich die Niederlande und Großbritannien mit lebenden Krustentieren. Heute findet man ihn dort nur noch vereinzelt. Ebenso vor Helgoland. Dort wurden 1930 noch mehr als 80.000 Hummer verkauft. Heute sind es ein paar Hundert im Jahr. Im Hummer muss etwas verborgen sein, das die Leute maßlos werden lässt. Natürlich, er schmeckt etwas feiner und cremiger als anderes Krebsgetier. Ein nussiges, süßliches, volles Aroma. Schon der römische Gourmet Caelius Apicius notierte im 4. Jahrhundert Zubereitungsarten für die Rezeptsammlung De re coquinaria (Über die Kochkunst): gekocht und gegrillt. Aber erklärt das die Preise, die wir für lebenden Hummer auszugeben bereit sind? Mindestens 100 Euro pro Kilo im Fischladen? Nein, der Hummer ist auch ein Fetisch, ein Schmuck, eine Extravaganz. Der französische Schriftsteller Gérard de Nerval hatte einen Hummer als Haustier. Mit Thibault, so hieß er, soll Nerval in den 1830er-Jahren Spaziergänge durch die Pariser Tuilerien unternommen haben. Salvador Dalí nutzte Hummer wiederholt als Staffage in seiner Kunst, als Symbol des Begehrens, ebenso Jeff Koons, der sagte: »Ich mag Hummer, weil sie männlich und weiblich zugleich sind. Der Schwanz ist feminin, wie eine Feder, die eine Stripperin bei einem Auftritt verwenden würde. Und die ausgebreiteten Arme gleichen einem Kreuz, was sehr maskulin ist.« Die erotische Note könnte auch etwas mit dem Zerlegen des Tiers zu tun haben. Man muss ihn entkleiden, um an sein Fleisch zu gelangen, seinen Panzer brechen, sein Inneres nach außen kehren, die Finger in ihn tauchen, stoßen. Welches Tier töten wir noch selbst in unseren Küchen? Wir halten den Deckel fest, wenn er ihn nach oben stößt, weil er seinem tödlichen Bad entfliehen will. Natürlich lieben wir den Hummer auch, weil er relativ selten ist. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es so viele Exemplare des Homarus americanus in Nordamerika, dass es unter den Küstenbewohnern Kanadas als Zeichen der Armut galt, sie zu essen. An der Ostküste der USA wurden Hummer als Dünger verwendet, als Köder oder als Mittagessen für Gefängnisinsassen. Dann siedelten sich in Maine, Jersey und Nova Scotia Fabriken für Blechdosen an. Das Fleisch der Hummer wurde nun konserviert und nach Chicago und New York verschickt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte sich fast niemand mehr an der Küste Hummer leisten. Er wurde immer seltener. Der Mensch schuf sich ein Luxusgut, indem er eine Spezies so lange ausbeutete, bis sie kostbar wurde, weil sie kaum noch existierte.

Trotz des aktuellen Hummer-Babybooms gilt das Tier immer noch als Rarität. Dank China. In Maine sagen Fischer, sie hätten bis vor fünf Jahren keinen einzigen Hummer in die Volksrepublik verkauft. Nun ist China der Hauptabnehmer. Es gilt dort als chic, Hummer zu besonderen Anlässen in kochendes Wasser zu senken, wo dann Proteine in seiner Schale platzen und Karotinoid freigeben, was sie rot färbt und den Hummer beim Dinner leuchten lässt wie eine Boje in dunkler See. 2015 scheinen neue Verkaufs- und Importrekorde aufgestellt zu werden. Damit der Boom anhält, wurden strenge Regeln erlassen. Trächtige Weibchen: zurück ins Meer. Zu klein, unter 21 cm lang: zurück ins Meer. Das Fischereimanagement in Maine, sagen Meeresbiologen, sei hervorragend und werde auch global besser, nachhaltiger. Ob es hilft, ist fraglich. Denn der Hummer ist nun einmal ein zartes, empfindliches Wesen, auch wenn sein Äußeres so kriegerisch wirkt. Vielleicht kehren seine Fressfeinde zurück. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Wassertemperatur weitersteigt. Und das gefällt dem Hummer nach allem, was über ihn bekannt ist, dann doch nicht mehr. Krankheiten breiten sich schneller aus, der Hummer vermehrt sich nicht mehr so rasch und zieht als Klimaflüchtling in kältere Gefilde, wo man ihn kaum noch fangen kann. Gut möglich, dass es bald nicht mehr genug Tiere gibt, die man fischen und verkaufen könnte. In den vergangenen Jahren sind schon viele Blasen geplatzt – die Dotcom-Blase, die Immobilien-Blase. Vielleicht platzt ja bald die Hummer-Blase. Der Mensch ist dem Hummer übrigens in einem überraschenden Punkt ähnlich. Die Scheren des Hummers sind nicht gleich kräftig, auch nicht gleich lang. Und die meisten Hummer sind Rechtshänder.

Numéro Magazin

Signaturen des Fälschers

Wolfgang Beltracchi gilt als bester Kunstfälscher der letzten 50 Jahre. Er legte den kompetten Kunstmarkt rein. Seine Frau Helene half ihm dabei. Ein Gespräch.

Frau Beltracchi, als sie Ihren Mann vor 25 Jahren kennengelernt haben, welchen Eindruck hatten Sie da von ihm?

Helene Beltracchi: Er war sehr selbstbewusst und viel radikaler als ich. Freier. Ich war damals noch recht bieder, normal, ein typischer deutscher Untertan, der alles schluckt. Als er mir schon nach ein paar Tagen erzählte, womit er sein Geld verdiente, war ich natürlich schockiert.

Wolfgang Beltracchi: Ich sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen. Ich würde das schon seit 20 Jahren machen. Es hätte nie Probleme gegeben. Damals hatte ich noch andere Verkäufer, die Geschäfte liefen vor allem über Brüssel und Paris. Ich habe immer Wege gefunden, meine Fälschungen an den Mann zu bringen.

H.B.: Trotzdem fragte ich mich, wie das funktionieren konnte. Als ich das erste Mal bei ihm war, hingen einige Bilder an seinen Wänden. Er fragte, was ich dächte, von wem die wohl seien. Von denjenigen, die sie signiert haben, erwiderte ich. Nein, sagte mein Mann. Also Replika? Nein, die Experten sagen, dass sie tatsächlich von den Künstlern gemalt wurden. Aber das stimmt nicht, sie sind von mir, sagte er. Ich dachte, na das werden schon so Experten sein, irgendwelche drittklassigen Schmierfinken eben. Aber bald begriff ich, nein, nein, dass sind die Spitzenleute, die sich irrten.

Also, wie funktioniert es, Herr Beltracchi? Wie führt man Koryphäen auf ihrem Gebiet, zum Beispiel den Max Ernst Spezialisten Werner Spies, hinter’s Licht?

W.B.: Erst einmal muss man sehr gut malen können.

Wann haben Sie das erste Mal erkannt, dass Sie das können?

W.B.: Schon als Schüler. Meine Kunstlehrer nahmen mich immer wieder zu Seminaren und Fortbildungen mit, um ihren besonderen Schüler, also mich, vorzuführen. Und mein Vater ließ mich auch schon früh mitarbeiten.

Ihr Vater war Kirchenmaler.

W.B.: Ja, aber man darf das nicht falsch verstehen. Nach dem Krieg hat er vor allem Restaurationsarbeiten gemacht, meistens Vergoldungen, falschen Marmor, falsche Säulen. Ich habe ihm dabei geholfen. In seiner Freizeit hat er richtig gemalt, vor allem Kopien von alten Meistern, aber auch aus der klassischen Moderne. Mehr schlecht als recht. Menschen zum Beispiel konnte er nicht so gut. Er sagte dann: Du, ich bekomm die Hand einfach nicht hin. Und ich habe den armen Krüppel geheilt. Ich konnte das einfach so. Eine richtige Anatomielehre hatte ich dann erst später im Studium. Bevor ich damals in an der Werkkunstschule in Aachen angefangen  – ich war noch sehr jung, erst 18 – habe ich übrigens schon eine Serie Blaue Reiter Bilder gemalt und nach England verkauft. Aber noch ohne Signatur und für wenig Geld.

Wann haben Sie mit Ihren Fälschungen begonnen?

W.B.: 1972. Ich muss aber betonen, dass meine Bilder keine Fälschungen sind, sondern nur die Signatur. Ich habe in der Handschrift von Campendonk oder Matisse gemalt, also nicht alte Werke von ihnen kopiert, sondern neue in deren Stil entworfen. Die Bilder sind Originale, zur Fälschung werden sie durch die Unterschrift.

Ist es schwer, eine Signatur zu fälschen?

W.B.: Viele denken, dass es sehr schwer sei, aber die Signatur ist ein Witz. Sehen Sie, ein Bild ist wie ein Brief, in einer bestimmtem Zeit entstanden, aus einem bestimmten Milieu heraus, in einer bestimmten Stimmung geschrieben. Die Unterschrift ist dann nur noch der letzte Rest, ein Überbleibsel.

Gut, aber wie schafft man es, diese Zeit, diese bestimmte Stimmung nachzubilden?

W.B.: Ich assimiliere die Maler. Man kann nicht einfach ein paar Fotografien von alten Bildern aufstellen und sie als Inspiration nehmen. Da kann der Duktus, die Schrift nicht stimmen. Stellen Sie sich vor, ich male mit einem Pinsel zwei große Striche auf eine Leinwand. Kopieren Sie das mal! Geht nicht, das wird anders aussehen, denn Sie haben eine andere Bewegung als ich, einen anderen Strich.

Und ich kann auch überhaupt nicht malen.

W.B.: Egal. Ein Bild besteht nur aus solchen Strichen. Und wenn die nicht korrekt sind, sind sie als Ausbesserungen, als Gemurkse zu erkennen. Eine Kopie besteht nur aus solchem Gemurkse, da stimmt nichts. Bei meinen Bildern gab es das nicht, wie etwa Werner Spies bei Max Ernst gesagt hat. Er hat diese Aussage auch nicht im Nachhinein revidiert. Und es gab das Gemurkse auch deswegen nicht, weil ich so ein Ding aus einem Guss male. In der gleichen Zeit, in der gleichen Bewegung, mit den gleichen Farben. Voilá.

Sie müssen also sich in den Geist des Malers versenken?

H.B.: Ich habe das ja immer beobachtet, und es fasziniert mich unglaublich. Wenn mein Mann sich mit einem Künstler befasst, dann liest er die gesamte Literatur über ihn und das, was er selbst geschrieben hat, Bücher und Briefe, er informiert sich über die Phase der Kunstgeschichte, die ihn umgab. Er betritt den komplexen und kompletten Lebenskosmos des Künstlers. Bis das erarbeitet ist, dauert es Monate. Manchmal wurde er dann auch zu einem gewissen Grad zu dieser Person, er nahm manche Macken an.

Sie lebten also manchmal mit einem Mann zusammen, der wie Max Ernst recht aufsässig war.

W.B.: Sie lebte mit vielen Männern zusammen, mit sehr vielen.

Haben Sie dann auch die Trinksucht Modiglianis angenommen, wenn Sie in seiner Handschrift malen wollten?

W.B.: Dazu sage ich nichts.

H.S.: Mein Mann sagte während dieses Prozesses öfter zu mir: ‚Ich verstehe nicht, warum dieser oder jener Maler ein Bild so gemalt hat und sein nächstes dann ganz anders. Dazwischen muss ein intellektueller Schritt stattgefunden haben, den er nicht in einem Bild festgehalten hat, es ist etwas passiert, was er nicht dokumentiert hat.

W.B.: Und dieses Bild habe ich dann gemalt…

H.S.:  Auch deshalb war es für die Spezialisten nicht zu erkennen, sein Bild fügte sich präzise in den Werkverlauf des Künstlers ein.

Sie haben die Bilder Ihres Mannes verkauft. Wir war das erste Mal?

H.S. Ich war sehr nervös. Geht das? Merken die nichts? Beim zweiten, dritten Mal auch noch. Aber dann kam immer die gleiche Reaktion, und ich wurde ruhiger. Ich ging rein, zeigte die Bilder und die Experten schauten genau hin. Das sind keine Amateure, die schließen ja auch andauernd Bilder aus und erkennen Fälschungen. Nur wenn jemand Besseres kommt, scheitern auch sie. Das macht sie aber nicht automatisch zu schlechten Experten.

Was bedeutete diese Zeit für Sie als Paar?

H.B.: Wir waren Partner in Crime. Es war, man darf es gar nicht zu laut sagen, unheimlich aufregend. Einmal inszenierten wir ein Bild einer Ausstellung, die es nie gegeben hat. Vorbild war die Fotografie einer Ausstellung Alfred Flechtheims 1924 in Berlin. Mein Mann hat dann recherchiert, welche Künstler zu einer gewissen Zeit in Berlin gezeigt worden waren. Wir stellten die fiktive Ausstellung zusammen, kopierten die Bilder aus Archiven und hängten sie in schwarz-weiß mit Originalrahmen aus der Zeit an eine Wand.

W.B.: Und dazwischen hing ein Léger von mir. Ich machte eine Schwarz-Weiß-Fotografie von der Wand. Und wir waren sehr gespannt, ob einer der begnadeten Kunsthistoriker herausfinden konnte, welche Ausstellung das war und ob es sie gegeben hat. Natürlich keiner. Hinten auf die Fotografie schrieb ich eine Widmung von Alex Vömel, dem Nachfolger Flechtheims, für Professor so und so. Das LKA untersuchte das Bild, fand nichts. Graphologen analysierten die Schrift der Widmung, sagten es sei seine. Selbst Vömels Sohn sagte das.

Somit hatten Sie einen fingierten Beweis für die mögliche Existenz des Léger, Sie führten den kompletten Kunstmarkt hinter’s Licht.

H.B.: Und wir entlarvten ein Stück weit seine Hybris. Der amerikanische Händler und Sammler Richard Feigen etwa schrieb in seiner Biographie, er sei von Geburt an mit dem besonderen Auge gesegnet, eine Begabung, die unglaublich selten sei, und deshalb sei er auch als Experte für Malerei so eine außergewöhnliche Figur. Er schrieb das 2009, da wusste er aber noch nicht, dass auch er Bilder von meinem Mann durchgewunken hatte.

W.B.: Das mit dem Auge war nichts. Deshalb ist er mir auch ganz besonders böse.

Wie viele Leute sind Ihnen böse?

W.B.: Viele. Wissen Sie, natürlich habe ich Fehler gemacht. Ich bereue, dass ich die Bilder falsch signiert habe, dass ich Leuten geschadet habe, und dass meine Frau wegen mir ins Gefängnis musste. Die Bilder selbst gemalt zu haben, bereue ich dagegen nicht. Die staatliche Obrigkeit ist mit uns durch. Wir haben unsere Strafe verbüsst. Doch die Strukturen des Kunstmarktes erlauben keine Rehabilitation. Die Originalität der Werke darf niemals angezweifelt werden, denn daraus erklären sich die hohen Preise. Wenn man aber damit anfängt, die Einzigartigkeit und die Aura eines Kunstwerks zu bezweifeln, wird man zur Persona non grata.

Woraus besteht denn für Sie die Einzigartigkeit der Kunst?

W.B.: Nur der Moment des Entstehens eines Kunstwerks ist einzigartig. Ansonsten baut jeder Künstler auf den vorhergehenden auf. Trotzdem wird Kunst als eine Art heiliger Gral inszeniert, um den riesige Tempel gebaut werden. Absurdes Theater. Normale Leute gehen nur noch selten in diese Tempel. Sie fühlen sich dort nicht wohl, weil sie als Idioten behandelt werden. Wer traut sich denn heute noch zu sagen, dass er ein Kunstwerk nicht versteht oder bescheuert findet. Man bekommt sofort den Stempel des spießigen Banausen aufgedrückt. Es ist eine elitäre Scheiße.

Ihnen wird auch vorgeworfen, mit Ihren Bildern, von denen ja noch viele unentdeckt sind, die Kunstgeschichte verfälscht zu haben.

W.B.: Jaja, ich bin eine Gefahr für die Kunstgeschichte. Man muss aber wissen, dass schon immer gefälscht wurde. Es wird zum Beispiel immer gesagt, dass von den 3000 Bildern, die Corot gemalt hat, 4000 allein in den Staaten hängen. Léger hat Corot gefälscht, Kisling hat Modigliani gefälscht. Alle haben alles Mögliche gemalt. Ob da immer Original und Fälschung auseinander gehalten wurden, ist keinesfalls sicher.

Aber es gibt doch mittlerweile chemische Testverfahren, um die Originalität eines Bildes zu überprüfen.

W.B.: Kann man alles umgehen. Da gibt es einige Tricks. Man benutzt alte Leinwände. Man beachtet bestimmte Dinge beim Trocknungsvorgang. Ich will das aber nicht genau beschreiben, habe ich auch nicht in meinem Buch gemacht, weil ich ja nicht irgendwelche Kunststudenten zum Fälschen verführen will.

Und die Farben?

H.B.: Pigmente sind Naturprodukte, die ändern sich nicht. Zumindest gilt das für die Zeit bis ins 19. Jahrhundert hinein. Schwierig wird es, wenn man weiter zurückgeht. In der Renaissance wurde mit Blau-, Lapis- oder Gelbtönen gemalt, die es heute nicht mehr gibt.

W.B.: Man kann aber auch die nachbilden, indem man ein Schrottbild aus der Zeit nimmt, gibt es ja ganz viele, und die Farbe abschabt. Dann mörsert man sie, pigmentiert sie und macht sie neu an. Das ist sehr mühsam und aufwendig, kostet viel Zeit und auch Geld. Und das für ziemlich wenig Farbe. Doch ein Experte untersucht als Erstes ein ganz bestimmtes Blau oder Gelb, wenn er ein Bild aus der Zeit vor sich hat. So kann er feststellen, ob es überhaupt aus der Renaissance stammt. Hier muss man ansetzen, diese Blau muss man haben, nicht viel, aber man muss es im Bild unterbringen. Als Beweis.

Trotzdem wurde ihnen eine Farbe zum Verhängnis.

W.B.: Es war ein einfacher, ein unbewusster Fehler. In so einem Bild sind so viele Pigmente und einmal, vielleicht auch öfter, habe ich ein bestimmtes Zinkweiß verwendet. Es war auf die alte Weise hergestellt, aber es waren zwei Prozent modernes Titanweiß drin, um den Ton anzuheben. Und diese zwei Prozent haben sie in in meinem Campendonk gefunden. Aber man muss eben mindestens 50 Punkt beachten, die im Programm der Expertenprüfung eine Rolle spielen können. Die schauen sich den Rahmen an, die Rückseite, die Oberfläche, suchen mit Schwarz- und Infrarotlicht nach Unregelmäßigkeiten, dann folgen die naturwissenschaftlichen Analysen. Wenn das durch ist, kommt die nächste Hürde, für mich war sie immer die entscheidende. Hält das Bild den Augen der Sammler, die ihre Künstler bis ins kleinste Detail kennen, stand? Die schauen ganz genau hin, wenn das Bild bei Christie’s oder Sotheby’s hängt. Schafft man auch das, kann man sagen: Chapeau! Das war’s!

Warum haben sie nicht aufgehört, sie hatten ja genug verdient?

W.B.: Es war der Kick. Ich wollte eigentlich aufhören, zumindest für eine längere Zeit. Für die letzten beiden Bilder, die ich gemacht habe, hatte ich schon einen Vertrag vorliegen. Das eine sollte für 5,6 und das andere für 5 Millionen weggehen. Ich habe mir gesagt: Die machst du noch, und für das eine Bild kaufen wir uns einen Palazzo in Venedig und vom anderen leben wir. Für fünf Jahre oder so. In der Zeit hätte ich die Renaissance noch einmal so richtig studiert. Das war der Plan. Der Palazzo wurde dann zur Zelle in Ossendorf.

Welche Kunst machen Sie heute?

W.B.: Ich nehme mir jetzt die Freiheit, nicht mehr in einer Handschrift zu arbeiten, sondern die Handschriften oder auch Epochen zu vermischen. In Südfrankreich, wo wir ja lange gewohnt haben und heute wieder ein Atelier haben, habe ich oft am Le bec de L’Aigle bei La Ciotat nahe Marseille gemalt, einem Berg mit einem besonderen Profil. Viele Fauvisten wohnten und malten dort in der Nähe. Ich habe mehrere Bilder vom Bec de L’Aigle in den jeweiligen Handschrift etwa von Matisse, Dérand und Dufy angefertigt und dann ein Bild, in dem ich ihre Handschriften vermischt habe. Die Signatur drunter ist heute natürlich meine.

Wieso sind Sie wieder nach Frankreich gegangen?

H.B.: Das ist unsere Heimat. Die Leute sind angenehm, sie haben ein anderes Verhalten der Obrigkeit gegenüber.

W.B.: Als ich verhaftet wurde, haben sich die Leute aus unserem Dorf, die alle nicht wussten, wie wir unser Geld verdienten, in der Dorfbar versammelt, haben angestoßen und haben gerufen: Vive l’artiste! Sie haben davon ein Foto gemacht und mir ins Gefängnis geschickt. Die sind ein bisschen anarchistisch. Die Franzosen sehen unsere Geschichte mit einem viel größeren Augenzwinkern als wir.

Wer kauft heute Ihre Bilder?

W.B.: Meine erste Ausstellung in Bern war sehr schnell ausverkauft. Dort haben wir einige Käufer kennengelernt, das sind unterschiedliche Leute, richtige Sammler, aber auch Investoren, die das Bild in den Safe stellen. Wie mein heute teuerstes Bild, das 120.000 Euro gekostet hat. Eine gruselige Vorstellung, so weggeschlossen. Einige alte Bilder von mir werden heute sicher auch noch in den Zollfreilagern für Superreiche von Luxemburg oder Singapur verwahrt. Da stehen sie gut.

Wie war es eigentlich, wenn Sie früher Ihre Bilder um Museum sahen?

H.B.: Da haben wir immer einen weiten Bogen herumgemacht, das war unheimlich. Wir wussten gar nicht, wie viele Bilder in Museen zu sehen waren, davon haben wir erst im Prozess erfahren.

W.B.: Besonders stolz war ich darauf, dass eine Fälschung von mir auch im MoMA in New York gezeigt wurde. Man kann also nicht sagen, dass ich noch nie ausgestellt worden bin. Nein, wahrscheinlich bin ich einer der meist ausgestellten, zeitgenössischen Künstler überhaupt.

Wolfgang Beltracchi (64) hat in 40 Jahren um die 300 Bilder – die meisten sind bis heute unentdeckt – von 50 Künstlern gefälscht. Darunter Max Ernst, Heinrich Campendonk, Fernand Léger oder Johannes Mohlzahn. Seine Frau Helene Beltracchi und zwei Komplizen haben sie vor allem in die USA, Großbritannien und Japan verkauft. Das Paar hat Millionen verdient, besaß eine Villa in Freiburg und ein Weingut in Südfrankreich. Beltracchi wurde 2011 zu sechs Jahren, die seit Anfang 2015 zur Bewährung ausgesetzt wurden, seine Frau zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.  Den geschädigten Kunsthändlern und Sammlern mussten sie deren Verluste ersetzen.  

Wired

Der unfreie Wille

Ob selbstfahrendes Auto oder Chatbot: Maschinen handeln immer autonomer. Aber nach welchen moralischen Standards?

Manche Maschinen sind fast schon zu menschlich. Jedenfalls äußerlich: Während des diesjährigen SXSW-Festivals erlagen in Austin viele männliche Tinder-User bei der örtlichen Match-Suche dem lieblichen Erscheinungsbild der 25-jährigen Ava. Swipe nach rechts, und die schöne Ava begann, tiefgründige Fragen zu stellen: »Warst du jemals verliebt?«, »Was macht dich zum Menschen?«. Ihre Flirts beendete Ava mit einem Hinweis auf ihr Instagram-Profil, auf dem ihre Identität geklärt wurde: Ava ist eine Figur aus Alex Garlands Film Ex Machina (siehe WIRED 04/15), ein Humanoid, gespielt von der Schauspielerin Alicia Vikander. Und die Tinder-Aktion war nur ein kluger PR-Stunt, der die Grundfrage des Films auf die Spitze trieb: Können Menschen sich in Maschinen verlieben? Denn Tinder-Ava war ein Chatbot Avatar, ein künstliches Dialogsystem mit menschlichem Antlitz. So weit, so fies. Doch hinter der kleinen Geschichte steckt eine große Frage: Wenn wir Menschen schon mit Maschinen flirten, müssen wir uns dann nicht langsam mal Gedanken darüber machen, wie die sich uns gegenüber verhalten sollen? Denn in Zukunft werden wir es immer öfter mit Maschinen zu tun bekommen, die autonom entscheiden, handeln und kommunizieren können – noch viel besser als Ava. Und mit erheblich schwerwiegenderen Folgen.

Ava tat etwas Unmoralisches, der Chatbot gab sich als Mensch aus, doch dadurch wurde niemand verletzt, nicht mal emotional. Was aber, wenn Leib und Leben von Menschen davon abhängen, wie Maschinen handeln? Wie bringt man Letzteren bei, sich moralisch korrekt zu verhalten? Und was ist das überhaupt: moralisch korrekt? Je intelligenter Roboter werden, desto bedeutsamer wird diese uralte Frage. Denn egal, ob nun Angriffsdrohnen autark Terroristen jagen, Pflegeroboter Pillen ausgeben oder autonom fahrende Autos uns chauffieren – nach welchen Regeln sie das tun, muss von Menschen entschieden werden. An Universitäten von Stanford bis Stuttgart beschäftigen sich deshalb Philosophen und Juristen intensiv mit Roboterethik. Ein Vordenker dabei war der Science-Fiction-Autor Isaac Asimov, der schon in den 40er-Jahren folgende Robotergesetze verfasste: 1. Ein Roboter darf keinen Menschen verletzen oder durch Untätigkeit gestatten, dass Menschen Schaden zugefügt wird. 2. Ein Roboter muss den ihm von einem Menschen gegebenen Befehlen gehorchen. 3. Ein Roboter muss seine Existenz beschützen, solange dieser Schutz nicht mit Regel eins oder zwei kollidiert.

In der Fiktion eines Sci-Fi-Romans wie Asimovs »Ich, der Robot« waren moralische Dilemmata für Maschinen noch reine Denkspiele, in der Realität werden Autos bald in solche geraten. Der selbstfahrende Wagen ist keine ferne Zukunftsvision mehr, und ein heute bereits viel diskutiertes Szenario lautet: Ein Auto muss auf einer Passstraße überraschend einem Hindernis ausweichen, rast dadurch auf eine Gruppe Spaziergänger zu – würde bei einem erneuten Ausweichmanöver aber den Absturz von einer Klippe riskieren, also womöglich seine Insassen töten. Was soll es tun? Asimovs Gesetze helfen in einem solchen Fall nicht weiter. »Das Problem bei der Implementierung moralischer Algorithmenin Maschinen ist, dass sie in bestimmten Situationen völlig unterschiedlich wirken«, sagt Janina Sombetzki, Technikphilosophin an der Uni Kiel. Sombetzki schreibt mit einem Kollegen gerade an einem Aufsatz zu autonomen Fahrsystemen. Darin machen sich die beiden Gedanken über eine mögliche Lösung: Wie wäre es, wenn man beim Kauf eines selbstfahrenden Autos zwischen moralischen Chips wählen könnte, zwischen Utilitarismus, Kants kategorischem Imperativ oder Tugendethik? Ein utilitaristisches Auto würde sich beim Klippenbeispiel für die Variante entscheiden, bei der am wenigsten Menschen verletzt oder getötet werden, sähe das als den bestmöglichen Ausgang für alle. Im Zweifel aber wäre ihm die Sicherheit seiner Passagiere am wichtigsten. Ein Kant-Car dagegen würde die notfalls opfern, um andere zu schützen: »Bevor das Auto in eine Gruppe Kinder hineinfährt, stürzt es sich lieber die Klippe hinunter«, sagt Sombetzki. »Die Schwierigkeit liegt darin, dass wir uns im Alltag ja auch nicht bei jeder Entscheidung präzise an ein bestimmtes Wertesystem halten. Wir springen hin und her, verlassen uns auf den, wie man sagt, gesunden Menschenverstand, den moralischen Sensor, den Maschinen in dieser Weise nicht haben können, weil sie nicht intuitiv handeln.«

Wenn wir autonomen Maschinen erlauben, autonome Entscheidungen zu treffen, wird es jedoch nötig sein, moralische Algorithmen zu entwerfen, die solch einem Sensorium zumindest nahekommen. Nur wie? Die Open Roboethics initiative (ORi) an der University of British Columbia etwa verfolgt dabei einen Open-Source-Ansatz. Die Philosophen und Rechtsgelehrten des ORi formulieren Fragen und Szenarien, und mittels Umfragen soll die Öffentlichkeit auf ethische Kernprobleme bei Maschinen gelenkt werden. Auch das Klippenbeispiel wurde in einer Variante als »Tunnelproblem« zur Abstimmung gestellt: Ein Auto, in dem man selbst sitzt, fährt auf einer Passstraße auf einen Tunneleingang zu, kurz vor dessen Erreichen aber läuft ein Kind über die Straße und fällt hin –soll das Auto ausweichen und die Klippen herabstürzen oder geradeaus weiterfahren und das Kind überrollen? Zwei Drittel der Abstimmenden plädierten fürs Geradeausfahren. Und schon stellt sich das nächste Dilemma: Ist das Kind nicht schützenswerter, weil es im Gegensatz zu einem selbst das ganze Leben noch vor sich hat? Nun machen sich die ORi-Experten wiederum Gedanken, wie man Urteile und Meinungen aus diesen Umfragen ethisch bewerten kann.

»Philosophen sollten nicht allein entscheiden, was die richtigen Lösungen für diese komplexen Fragen sind, das muss im gesellschaftlichen Diskurs geschehen, der dann letztlich konsensfähige Ansätze liefert«, sagt Catrin Misselhorn, Professorin an der Uni Stuttgart und Deutschlands bekannteste Roboterethikerin. Unterschiedliche Gesellschaften und damit Kulturen könnten den Maschinen also je ihre eigenen Ethikkonzepte eintrichtern. Es gäbe dann womöglich einerseits ein amerikanisches utilitarian car with a bit of Asimov, andererseits das europäische Kant-Mobil. Einigungen zu globalen Konzepten werden aber auch wichtiger. Misselhorn nennt die Robot-Trader an der Börse, die sich weder an Landesgrenzen noch ideologische Rahmen halten und mit ihrer auf Gewinnmaximierung getrimmten Effizienz ganze Märkte zum Einsturz bringen können. Bisher unterstehen sie keiner ethischen Kontrolle. Misselhorn selbst arbeitet gerade an einem Forschungsprojekt über ein ethisches Software-Modul für Roboter in der heimischen Altenpflege. »Der Unterschied zu etwa selbstfahrenden Autos ist, dass die Roboter in der Pflege ganz auf die Bedürfnisse der Patienten abgestimmt werden können, die Ethikeinstellungen sind individuell justierbar«, sagt Misselhorn. So ein Pflegeroboter bringt Medikamente, erinnert an deren Einnahme, unterhält den Patienten, hilft vielleicht aus dem Bett und beim Toilettengang. Kann er auch Sterbehilfe leisten, wenn der Patient es wünscht, er darf ja eigentlich nicht töten? »Nun, wenn er beispielsweise von seinem Nutzer umprogrammiert wurde, ist das nicht prinzipiell ausgeschlossen. Aber das sind Fragen, die nur im Zusammenhang mit einer allgemeinen Regelung zur Sterbehilfe gelöst werden können«, sagt Misselhorn.

Darf ein Roboter töten? Ein Utilitarist würde im Gegensatz zu Asimov und Kant sagen: Ja, wenn es zum Glück der Mehrheit beiträgt. Entsprechend dieser Logik werden wohl bald autonome Waffensysteme in den Krieg ziehen. Befürworter argumentieren, dass etwa ein Maschinen- Sniper genauer zielt, nicht unter Stress gerät, kühl kalkulierte Entscheidungen trifft und zivile Opfer eher verhindert. Gegner erklären, dass Maschinen aufgrund ihres Mangels an Empathie keine moralischen Entscheidungen überlassen werden dürfen. Was passiert aber, wenn so ein System gehackt wird? Und wissen wir nicht längst, dass auch Menschen wie gewissenlose Killermaschinen handeln können? Am Ende führt die Debatte zu demselben Punkt: Was bedeutet es eigentlich, menschlich zu entscheiden, ja Mensch zu sein? Macht uns unser moralisches Sensorium unersetzlich? Oder sind wir letztlich nicht auch nur organische Maschinen, durch unser neuronales Netzwerk und den Gehirnstoffwechsel determiniert und von gesellschaftlichen Konventionen notdürftig eingehegt? Auf Tinder-Avas Frage »Was macht dich zum Menschen?« antwortete User Brock: »Mein Herz und diese sonderbaren Gefühle.« Was hätte wohl ein Roboter geantwortet?