Die Zeit

Können Sie darüber gar nicht lachen?

Witze sind das Wichtigste, was Internet hervorgebracht hat. Ein Plädoyer für mehr guten Quatsch im Netz.

Nichts macht mich wütender als dieser eine Satz, vorgetragen in jovial-spöttischem Tonfall: „Na, was ist los im Internet?“ Ein Kollege sagt ihn gerne, wenn er sich hinter mir rumdrückt und mir mal wieder auf den Bildschirm blickt. Und es ist kein nsfw-(not safe-for-work)-Material, das er dann sieht, keine Busenbilder. Es sind Witze. Einen nicht geringen Teil meines Online-Tages hüpfe ich zwischen verschiedenen Chat-Gruppen, treibe mich auf dubiosen Seiten herum und – vor allem das – scanne Facebook. Kurz: ich mache Quatsch. Aber eigentlich weiß ich, dass ich Wichtiges leiste. Und dass die Welt besser wäre, wenn mehr Menschen im Internet gute Witze machen und verbreiten würden.

Natürlich gibt es die Warner. Die sind so diskursmächtig, dass auch ich mich davon nicht ganz frei machen kann, aus irgendeinem Grund fühle ich mich von meinem Kollegen ja ertappt. Da ist etwa der Hirnforscher Manfred Spitzer, die Digital-Cassandra. Der könnte mich in einen Glaskasten setzen und seinen Jüngern als Beispiel für das vorführen, was er „digitale Demenz“ nennt. Wie kein zweiter warnt Spitzer vor der Verflachung der Welt durch digitale Angebote. Seine Rechnung: Je mehr Internet umso weniger Konzentration und Sozialkompetenz. Flankiert wird dieses Raunen durch zahlreiche Studien, die vor netzgestörten Persönlichkeiten warnen. Etwa eine ganz neue aus Südkorea, die zeigt, dass Narzissten auf Facebook ein besonderes Unwesen treiben: ständig posteten sie Selfies, studierten misstrauisch die Bilder anderer User und reagierten aggressiv auf Kritik. Und wirklich: was ist trauriger als das nette Grinsen, das in einen leeren Gesichtsausdruck zerfällt, sobald das Mobiltelefon am ausgestreckten Arm das vorteilhafte Bild aufgenommen hat?

Und doch habe ich nicht das Gefühl, im Netz zu verdummen. Im Gegenteil. Und das liegt fast nur an der Art von Humor, die hier gezüchtet wird. Der Soziologe Niklas Luhmann prägte im Bezug auf Kunst den Begriff „Kompaktkommunikation“. Damit meint er, dass ein Kunstwerk viel mehr ist als das, was man sieht. Stimmungen, Diskurse, Konzepte, Traditionen: all das „dockt“ an das Objekt an, lädt es auf. Humor im Netz funktioniert oft genau so. Ein Freund, leidenschaftlicher Skifahrer, postete kürzlich ein Selfie. Darauf zu sehen ist der Ski-Guide, ein stattlicher Bergmensch mit vereistem Bart und dahinter, mit nacktem Gesicht und etwas mausäugig dreinblickend, mein Freund. Dazu der Satz: „Mein Gott, wieso hast du mir keinen Bart wachsen lassen?“ Hier wurde eine Menge kompaktkommuniziert: ein komplexes Gebilde aus Stolz und Neid, dazu der ganze grandiose Schwachsinn, im Schneesturm auf 2500 Metern Höhe das Glück zu suchen. Die Persönlichkeit meines Freundes erstand aus dieser Bild-/Spruch-Kombination wie ein Hologramm. Es hagelte Likes.

Mein Facebook-Persönlichkeit funktioniert anders. Ich poste kaum Bilder von mir, sondern eigentlich nur Dinge, die mich belustigen. Kürzlich etwa einen besonders hässlichen, darmartigen Pudding, den ich gekocht hatte – als Kommentar zur grassierenden Food-Fotografie. Oder, ein persönlicher Spleen, Werbebilder von Lebensmitteln, die sich selbst verspeisen: Eine Eistüte, die ein Eis schleckt. Oder ein Schwein, das ein Schnitzel klopft. Diese Bilder gehen nicht gerade viral, aber doch erkennt jeder, der sie sieht, mich darin wieder. Meine Freude an absurden Szenarien und Nostalgie, sowie meine Sammelleidenschaft werden darin kompaktkommuniziert.

Das Alles funktioniert vor allem unter der Voraussetzung digitaler Verfügbarkeit. Für makabre Metzgerschilder konnte ich mich schon immer begeistern. IRL (in real life) sieht man aber vielleicht nur zwei lustige Exemplare im Jahr. Das ändert sich im Netz. Hier hat findet man plötzlich zu jedem noch so abwegigen Thema umfangreiche Galerien. Humor im Internet findet hauptsächlich auf der Bildebene statt. Oft reicht schon die Absurdität des Bildes. Wunderbar sind Sammlungen unter Titeln wie „completely unusable stock-photos“: etwa ein alter, dicker Mann mit Basecap und Unterhemd, der an einem riesigen, bunten Lolli leckt: WTF!

Handelt es sich bei den Netzwitzen – wie im Fall der lächerlichen Agenturbildern – um wiedererkennbare Elemente, spricht man von Memen. Der Begriff geht auf den Biologen Richard Dawkins zurück, der damit die Bausteine der sozio-kulurellen Evolution benennen wollte. In der Wissenschaft konnte sich der Begriff nicht durchsetzen, dafür im Netz. Man bezeichnet damit Elemente – Bilder, Videosequenzen, Sprüche – die immer wieder abgewandelt werden und deren Inhalt sich dadurch graduell verändert.

Einer der besten Meme, die es je gab und ein gutes Beispiel dafür, wie Netzhumor funktioniert, ist „Confused Travolta“. Es handelt sich um eine kurze Sequenz aus dem Quentin Tarantino-Film „Pulp Fiction“ (1994). Darin betritt Travolta eine Wohnung und ist offensichtlich verwirrt. Er blickt fragend nach links und rechts, zuckt die Schulten. Im letzten Dezember dann montierte ein User den verwirrten Travolta in einen Spielwarenladen mit Tausenden von Puppen. Darunter der Spruch: „Ich fragte meine Tochter, was sie sich zu Weihnachten wünscht. Sie sagte: eine Puppe.“ Wieder ein Fall von Kompaktkommunikation: Die Bescheidenheit des Kinderwunsches vs. das Überangebot der Spielzeugindustrie, auch ein bisschen Kritik angesichts der Übergriffigkeit von pinkem Kindertrash – viele Eltern hatten dafür ein LOL übrig und teilten das gif. Aber damit ging es los. Sehr schnell tauchte Travolta vor diversen Hintergründen auf. In ikonischen Filmszenen (etwa in Hitchcocks Psycho, verschwommen hinter dem Duschvorhang) oder, als Sinnbild der Fassungslosigkeit, in einem leeren Geldbeutel. Die beiden schönsten, die ich fand: zu Ostern stand Confused Travolta in der leeren Grabhöhe Jesu. Oder, gerade eben: vor einem Baum, hinter dem ein Pokemon hervorgrinst – das perfekte Sinnbild für Verunsicherung im „digitalen Neuland“.

Dieser Mem zeigt einen zentralen Mechanismus von Netz-Humor. Viele analoge Witze funktionieren über eine einfache Pointe, die schon Sigmund Freud beschrieb: Ein verdrängter Sachverhalt bricht in der Pointe hervor, das Tabu darf kurz weggelacht werden. Internethumor ist anders. Was hier zum Einsatz kommt, ist das Prinzip Dekontextualisierung. Der Lolli-Opa in einem Lehrbuch über psychische Störungen ist tragisch. Aus dem Zusammenhang gerissen und auf sich selbst zurückgeworfen, verweist das Bild auf die Frage, was der Mann wohl beim Klicken der Kamera gedacht hat, was der Fotograf sagte – und wer überhaupt die Idee für dieses idiotische Bild hatte. Der Humor ist hier eher ein atmosphärischer Effekt als eine wiedererzählbare Pointe, er entsteht aus der Serialität und dem Ausloten verschiedener imaginärer Szenarien.

Lange überlegte ich, wieso der Travolta-Mem bei mir – und bei Millionen anderer User – so zündete. Zum einen ist da diese höchst dubiose Figur Travolta. In dieser Szene aber wirkt er so trottelig-sympathisch, dass man ihn sofort umarmen möchte. Dann seine Reaktion: er befindet sich offensichtlich in einer Situation, derer er nicht Herr ist. Und doch ist er ganz und gar souverän, weit entfernt von Zerknirschung, er blickt sich fast schmunzelnd um. Was mit dem „Confused Travolta“ kompaktkommuniziert wird: die Gelassenheit desjenigen, der sich wundert – aber nicht aufregt.

Und genau hier zeigt sich so etwas wie die gesellschaftliche Relevanz diesen ganzen unterhaltsamen Quatsches. In den letzten Jahren verkam das Netz zu einem Wutkäfig. Ständig explodieren User vor Hass, weil sie irgendetwas nicht mögen oder verstehen. Der verwirrte Travolta ist ein Gegenmodell dazu. Er ist der Held, der uns zeigt, wie man im Internet und in der Welt überleben kann: mit Witz und Gelassenheit. Das ist auch der Grund, wieso auch das verunglückte Ski-Selfie meines Freundes so erfolgreich war: weil er damit klar machte, dass er sich auch selbst ein bisschen lächerlich findet. Diese fröhliche Distanz zu sich selbst (oder zu den Dingen, über die man sich ärgert) kann ein Kühlmittel sein für die gerade heiß laufende Erregungsmaschine Internet.

Nicht zuletzt thematisiert der Mem die Entstehungsbedingungen digitaler Artefakte. Denn hier geht es nicht mehr um die geniale Urheberschaft. Travolta und auch Tarantino sind ziemlich egal bei diesem Mem. Gefeiert wird eher die Entdeckung durch mehr oder weniger anonyme und altruistische User – gleichermaßen das Gegenstück zum täglich gescholtenen Netz-Narzissten und zum Wut-Troll. Jeder kann heute jederzeit mit einfachsten Mittel an einer weltweit sichtbaren Ideenproduktion teilnehmen. Klar, auch ein kluger, auf einem Blog veröffentlichter Essay kann Aufmerksamkeit erregen. Aber gerade weil Netzwitze oft nur über ein Bild funktionieren, verbreiten sie sich rasend schnell und über Sprachgrenzen hinweg. Genau so schnell können sie konsumiert werden – quasi im Gehen.

Die Netzskeptiker werden nun einwenden: jaja, da haben wir sie, die verflachte Kommunikation der Gegenwart, alles nur noch To-Go! Aber nichts könnte falscher sein. Da Internet-Humor mit Dekontextualisierung, mit gewagten Assoziationen und oft an (und jenseits) der Grenze der Verständlichkeit arbeitet, kommt er eben nicht mit einem simplen Lacher zum Abschluss. Da gibt es etwa das relativ neue Netzhumor-Genre, das komplett kryptische Ausschnitte aus mittelalterlichen Bildern mit nicht unbedingt erhellenden Kommentaren versieht: Natürlich lacht man zunächst ob der Albernheit der Kombination. Was aber dadurch in Gang gesetzt wird, ist eine nicht zum Abschluss kommende Hermeneutik.

Das gilt nicht nur für den Witz selbst, das gilt vor allem auch dafür, was damit gemacht wird. Humor ist ein Persönlichkeitsmarker, wesentlich exakter als intellektuelle oder geschmackliche Vorlieben. Gerade im digitalen Raum, der durch ein paradoxes Verhältnis von Nähe und Anonymität gekennzeichnet ist, ist das überlebenswichtig. Wer wann welche Witze teilt, likt oder gar erfindet: das alles ist hoch signifikant und lesbar. Schnell ergibt sich so eine eigene Etikette, ähnlich komplex wie das spanische Hofzeremoniell. Formen des Ein- und Ausschlusses entstehen, verschiedene Gruppen bilden private Humorsprachen. Wer über dieselben Dinge lacht wie ich, mit dem werde ich mich aller Wahrscheinlichkeit auch sonst gut verstehen.

Deswegen war es auch eine freundschaftliche Geste, als ich kürzlich den nervigen, dann aber doch geschätzten Bürogenossen heran bat, der sich mal wieder hinter mir herumschlich. Ich zeigte ihm die Witzseite namens- „Nachdenkliche Sprüche mit Bilder“ auf Facebook. Deren Prinzip ist einfach: ultrahässliche Apothekenkalenderfotos von Sonnenuntergängen und weinenden Engeln werden mit orthografisch krüppeligen „Weisheiten“ kombiniert. Etwa: „Sehmsucht ist die Quinkesenz der Freiheit“. Das Ganze ist so erfolgreich, dass aus der unkorrekten und vertrottelten Sprachverwendung inzwischen ein eigener Meme wurde, der sogar von der Sparkasse –außerordentlich unbeholfen – in einer kleinen Kampagne verwendet wird. Wieder zeigt sich hier das Grundprinzip des Netzhumors: Uneindeutigkeit. Natürlich sind die Text-Bild-Kombinationen eine Art Kommentar auf den wuchernden Schwachsinn im Netz, auf die erbaulichen Sprüche, die stündlich in den Timelines all jener gepostet werden, die man eigentlich längst entfreunden hätte sollen. Aber zugleich bedienen die Witze auch ein Ressentiment, lacht man doch auch über die geringen geistigen Fähigkeiten der Unterschicht. Zuletzt haben die „nachdenklichen Sprüche“ aber auch manchmal einen poetischen Wert, der sich schwer beschreiben lässt und dem ich mich nicht entziehen kann. Etwa, ein Klassiker der Seite: „Rainbo Schwan. Bezaubernde Wesen aus 1 andere Galaxy oder doch nur Fantasy“ Mein Kollege verstand sofort. Dann jammerte er: „Was hast du getan! Ich muss doch arbeiten.“

Es ist freilich nicht von der Hand zu weisen: Das alles kostet Zeit. Und anders als Stammtischunterhaltungen, kannibalisiert sich diese Zeit auf ungute Weise mit jener, in der Geld verdient werden muss. Eine Lösung für dieses Problem habe ich auch nicht. Aber ein Bild: ein verwirrter John Travolta, der vor einem Facebook-Profil steht.

Süddeutsche Zeitung Magazin Stil Leben

Auster Versenkung

Die Austernsaison beginnt. Eine gute Nachricht für Gourmets – vor allem für Vegetarier

Es ist nicht einfach, die inneren Werte einer Auster zu entdecken. Die Austerschützt sich gegen ihre Feinde durch eine dicke, harte, scharfkantige, dreischichtige Schale aus Kalziumkarbonat. Da zu jenen Feinden der Mensch gehört, haben sich Chirurgen in Frankreich eigens auf Handverletzungen spezialisiert, die beim Öffnen einer Auster entstehen. Handschuh und Austernmesser sind also eine gute Idee. Man bohrt vorsichtig dort in die knirschende Kalkhülle, wo das Scharnier der Muschelhälften sitzt. Trifft man die richtige Stelle, öffnet sich die Muschel mit einem sanften Knacken. Im Muschelbett bricht sich das Licht in allen Regenbogenfarben.

Aus dem schillernden Bett löst man das Fleisch und entfernt kleine Schalensplitter. Dann tröpfelt man etwas Zitrone darüber, setzt die Schale an den Mund – sachte, um nur nichts vom kostbaren Austernwasser zu verschütten. Man saugt und schlürft, erschaudert kurz, wenn die kalte, gallertige Masse Lippen, Zunge und Gaumen berührt. Ein sinnliches Aromen-Abenteuer: kühl, frisch, salzig, jodhaltig, saftig, manchmal süßlich. Austern schmecken nach Meer, nach tiefblauem fran zösischem Atlantik, auf dem weiße Gischt tanzt. Ist das gut! Aber auch grausam?

Immerhin hat man sich soeben mit Gewalt Zugang zu einem lebendigen Tier verschafft. Es zuckt, zieht sich zusammen, und dann zerdrückt man dieses Lebewesen mit der Zunge und schlingt es hinunter wie eine Schlange, die ihre Beute lebend verspeist. Töten und Genuss werden eins. Aber hier kommt die gute Nachricht: Es gibt kaum ein Lebensmittel, das wir derart guten Gewissens verspeisen können (am besten mit einem Glas gekühltem Sancerre). Es ist ökologisch und ethisch absolut korrekt. Auch Vegetarier dürfen Austern essen. Im Grunde müssen sie es sogar!

Ehe man jetzt hyperventiliert oder dieses Magazin wütend in die Ecke pfeffert, erst einmal eine kleine Differen zierung: Natürlich gibt es strenge Veganer, die gar nichts Tierisches konsumieren. Die auch auf Honig (Ausbeutung von Bienen) verzichten und denen sich beim Gedanken, einen lebenden Organismus zu verzehren, der Magen umdreht. Diese Menschen wird auch dieser Artikel nicht gewinnen.

Doch manche Tierliebhaber denken pragmatischer. Sie weigern sich aus vielerlei Gründen, Fleisch zu essen: Massentierhaltung ist qualvoll. Die Tiere leben zusammengepfercht in ihren Exkrementen. Für die Milchwirtschaft werden Jungtiere zu früh von ihren Müttern getrennt. Der Transport zum Schlachthof ist furchtbar, und der Akt des Tötens sowieso. Das Gleiche gilt für Fische, die im Netz oder am Köder hängen und dann erschlagen werden. Man muss dieses Wissen schon verdrängen, um Tiere mit Freude essen zu können. Und da sind noch andere Probleme: Die Massenzucht von Rindern belastet das Klima mehr als der internationale Auto- und Flugverkehr. Die Herstellung von einem Kilogramm Rindfleisch in Brasilien erzeugt so viel Kohlendioxid wie eine 1600 Kilometer lange Autofahrt – ganz zu schweigen von dem Methangas und der giftigen Gülle, die von den Tieren produziert werden. Fleisch ist noch dazu entsetzlich unökonomisch. Die Fläche an Land, die – etwa mit dem Anbau von Sojabohnen – nötig ist, um ein Rind zu füttern, könnte 15 bis 20 Menschen ernähren. Betrachtet man diese Argumente, scheint Vegetarismus eine sehr vernünftige Option zu sein. Und eben hier kommt die Auster ins Spiel.

Gut 95 Prozent der Austern kommen heute aus Zuchtbetrieben. Dafür werden Austernlarven in flachem Tidengewässer angepflanzt und nach drei bis sechs Jahren geerntet. Nur die Bodenkultivierung, bei der die Austern mit Schleppnetzen geerntet werden, ist ein wenig unökologisch, da der Meeresboden aufgewühlt wird und im Netz auch Beifang landet. Diese Methode wird aber immer seltener. Alle anderen Methoden schaden der Umwelt nicht. Austern müssen nicht gefüttert oder mit Antibiotika behandelt werden. Sie produzieren keine ätzende Gülle. Im Gegenteil: Austern filtern Wasser, bis zu 250 Liter schafft ein Tier pro Tag. So können Austern zur Steigerung der Wasserqualität eingesetzt werden, wie das in den Küstengewässern vor New York und New Jersey geschieht. Sie schmecken bloß nicht mehr besonders gut, wenn das Wasser stark verschmutzt ist. Austern ernähren sich von Plankton, also von Kleinst­lebewesen, die das Meer praktisch von selbst und ständig produziert. Die Auster ist ein wertvolles Lebensmittel, enthält kaum Fett, dafür hochwertiges Eiweiß, Vitamine und Spurenelemente, und kann mit minimalem Aufwand erzeugt werden. Ernährungswissenschaftler mahnen seit Langem: Wenn bald zehn Milliarden Menschen satt werden wollen, müssen wir unsere Ernährungsgewohnheiten auf Lebensmittel umstellen, die sich am Anfang der Nahrungskette befinden. Je höher entwickelt ein Tier ist, desto mehr Ressourcen braucht es zur Fütterung.

Ist es nun vermessen und dekadent, Austern für alle zu empfehlen? In Deutschland zahlt man derzeit ein bis zwei Euro pro Stück. Die Nachfrage ist gering, es gibt weder ein echtes Vertriebsnetz noch starke Konkurrenz zwischen den Händlern.

In Wahrheit ist die Produktion von Austern nicht sehr teuer. Im Mittelalter waren sie ein Arme-Leute­ Essen. Auf seinem Kupferstich Die magere Küche zeigt Pieter Bruegel der Ältere ärmliche Menschen, die gemeinsam Austern aus einem Topf essen. Charles Dickens schrieb: »Es ist bemerkenswert, dass Armut und Austern immer zusammengehören.« Im New York des 19. Jahrhunderts wurden Austern als Snack verkauft, für den Preis eines Hotdogs bekam man einen Teller voll davon. Wenn wir also wieder mehr Austern essen und mehr Austern produzieren, sollten die günstigen Preise von damals wieder möglich werden.

Das alles sind natürlich nur flankierende Argumente. Das wichtigste von allen ist: Austern können sich, im Gegensatz zu vielen anderen Weichtieren, weder bewegen noch haben sie Wahrnehmungsorgane. Vor allem spüren sie keinen Schmerz. Sie verfügen über einfache Nerven, jedoch über kein zentrales Nervensystem, also eine Instanz, die so etwas wie Schmerz registrieren kann. Vielleicht kommt nun der Einwand, dass es dem Lebewesen Auster ja nicht recht sein kann, gegessen zu werden, sonst würde es sich nicht mit einer Schale schützen. Das Gleiche ließe sich aber auch über Pflanzen sagen, zum Beispiel die für uns so wichtigen Nachtschattengewächse Tomate und Kartoffel, deren Wildformen sich mit allerlei Giftstoffen gegen Fressfeinde wehren.

Der australische Philosoph Peter Singer hat mit seinem Buch Animal Liberationdie moderne Tierschutzbewegung gegründet. Zum Thema Austern sagt Singer heute: »Vielleicht könnte es sein, dass Austern mehr Schmerz empfinden können als Pflanzen – aber ich halte das für sehr unwahrscheinlich. Solange es also keine neuen Beweise dafür gibt, dass Austern doch Schmerz empfinden, gibt es keinen Grund, wieso man auf nachhaltig gezogene Austern verzichten sollte.«

Selbst wer sich nicht zum Vegetarier umkrempeln lassen möchte, kann weniger Fisch und Fleisch essen – und zum Ausgleich Austern. Die römischen Kaiser sollen täglich Hunderte Austern verzehrt haben. Das deutsche Appetit Lexikon aus dem Jahr 1894 empfiehlt wiederum, »nie über 60, höchstens 72 Stück hinaus« zu gehen. Ludwig XIV. verschlang vor seiner Hochzeitsnacht mit Maria Theresia von Spanien angeblich 400 Stück. Wobei Austern die von ihm erhoffte aphrodisierende Wirkung nicht besitzen. Kulinarischer und erotischer Genuss sind trotzdem miteinander verbunden: Man küsst die Auster, schlürft und saugt, und ihr Aussehen erinnert nicht wenige an das weibliche Geschlecht.

So wie für die Auster könnte man auch für ganz andere Nahrungsmittel Plädoyers halten – zum Beispiel für den Afrikanischen Nacktmull. Ihm fehlt das Protein Substanz P, weshalb auch er nahezu keinen Schmerz empfindet. Er ernährt sich von hochkalorischen Knollen, die sich sicherlich mühelos und nachhaltig züchten lassen. Auch bei ihm besteht eine Beziehung zur Erotik, denn das nackte, längliche Tier regt wie die Auster durchaus die Fantasie an. Aber man sollte sich auch nicht überfordern.

PAUL-PHILIPP HANSKE bedauert, kein Vegetarier zu sein, hält sich für sehr tierlieb und hat kürzlich eine Katze gekauft. Ihn erschreckt allerdings, wie wenig tierlieb seine Katze bisweilen mit Mäusen umgeht.

Magazin der Bayrischen Staatsforsten

"Die Natur gewinnt immer"

Interview mit dem Künstler herman de vries

Hat gut lachen: herman de vries. Foto: Mathias Ziegler

herman de vries ist einer der wichtigsten Künstler der Gegenwart, ein Waldläufer, Sammler und Fährtenleser. Ein Spaziergang durch den nördlichen Steigerwald.

Ein lichter Laubwald. Langsam geht herman de vries, 83 Jahre alt, durch das Unterholz. Eine Woche zuvor kehrte er von Gavdos zurück, der südlichsten Insel Europas. Dort sammelte er Erden für seine mehrere Tausend Proben umfassende Kollektion. Dabei fiel er, weil er unachtsam war, in unwegsamem Gelände „auf die Nase“. Deshalb setzt er nun bedächtig einen Fuß vor den anderen. Auch ermahnt er die kleine Gruppe, die ihn begleitet, in seiner Spur zu laufen, auf diese Weise halte sich die Zerstörung von Pflanzen und kleinen Tieren in Grenzen.

Wo laufen wir hin?

Zum großen Knetzberg. Seit einigen Jahren wird dort kein Holz mehr geschlagen, seither ist das Gebiet ein sogenannter Trittstein. Das sind kleine Teile des Waldes, die verwildern dürfen. Das hat Ausstrahlungseffekte auf den umgebenen Wald: Samen seltener Pflanzen werden von hier aus verbreitet, auch verbergen sich Tiere hier im Unterholz.

Was sind Ihre Lieblingsbäume?

Hainbuchen. Das hier ist ein Hainbuchen-Eichen-Mischwald. Ich liebe Gestalt der Hainbuche. Auch mag ich ihre Zähheit. Sie erlaubt auch andere Vegetationen unter sich. In einem Rotbuchenwald wächst fast nichts darunter. Da ist es dunkel und die Humusschicht ist zu dicht für Pionierpflanzen. Auf dem Plateau, auf dem wir uns hier befinden, gab es einmal eine keltische Siedlung. Nun gibt es eine Diskussion darüber, ob man darauf mit Schildern hinweisen sollte. Ich bin dagegen. Überall gibt es Schilder. Wildnis ist wichtiger.

Aber trotzdem mögen Sie die Idee des Nationalparks nicht…

Doch, die Idee mag ich sehr: Wald, der sich selbst überlassen bleibt. Aber wir brauchen auch Holz. Wenn wir es selbst nicht produzieren, importieren wir es aus Finnland und Rumänien, wo alte Wälder abgeholzt werden. Man kann einen Wald so gut behandeln, dass er natürlich aussieht und doch aus ihm ernten. Das findet hier im Steigerwald statt. Als ich 1970 hier her gekommen bin, war der Boden frei von Ästen. Alles war sauber geputzt. Das hat sich in den letzten Jahren völlig geändert. Nun bleiben Äste, Laub und auch ganze Bäume liegen. Das ist wichtige Nahrung für den Boden.

Mit schnellem und doch sicherem Schritt arbeitet sich de Vries durch das Gelände. An einigen Bäumen bleibt er stehen, betrachtet sie eingehend, prüft die Rinde. Dann weist er auf einem toten Stamm, der am Boden liegt.

Das ist eine Hainbuche, die vor etwa 20 Jahren umgeweht wurde. Ich bin mindestens einmal im Monat hier und beobachte den Zerfallprozess. Man sollte eher sagen: die Wiederaufnahme in die Natur. Der Baum ist tot als Baum aber er lebt weiter, in anderen Formen. Diesen Baum da vorne muss ich Ihnen zeigen.

Eine Eiche?

Ja. Eine der drei ältesten Eichen im nördlichen Steigerwald. Sie war der Beginn des Methusalem-Programms, das auf meine Idee zurückgeht: Alte Bäume werden geschützt. Ulrich Merkner, der Forstbetriebsleiter hier, fand den Vorschlag gut und so entstand das Projekt. Heute sind etwa 80 alte Bäume in dem Programm und werden nicht mehr geschlagen: Eichen, Elsbeeren, auch Eschen.

Sie und der Förster kennen sich besser?

Ja, schon seit Jahren. Ohne ihn könnte ich hier nicht viel machen. Ich habe zum Beispiel die Sondergenehmigung, mit dem Auto im Wald herumzufahren. So habe ich in meinem Alter noch die Möglichkeit, meine Arbeit zu tun. Dieses Gebiet hier, der nördliche Steigerwald mit seinen etwa 200 Quadratkilometern, ist mein Atelier.

Im nahe gelegenen Dorf Eschenau wohnt herman de vries im alten Schulhaus, einem Sandstein-Gebäude aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Hier hat er sein gewaltiges Archiv mit Erden, Steinen, Blättern, Hölzern und anderen gefundenen Objekten. Auch befindet sich seine riesige Bibliothek hier. In einem Arbeitszimmer hängt eine große Wanderkarte der nördlichen Steigerwaldes.

Was sind das für Strecken, die Sie hier verzeichnet haben?

Das sind all die Spaziergänge, die ich dieses Jahr gemacht habe. Ich gehe jeden Tag mindestens zwei Stunden, auch bei Regen. Nächstes Jahr gebe ich einen Atlas heraus, in dem ich alle Spaziergänge hier in der Gegend verzeichne: gelaufene Zeichnungen.

Seit wann leben Sie im Steigerwald?

Seit September 1970. Ein Freund von mir wohnte hier, er kam aus der Gegend. Eigentlich plante ich, nach Irland zu gehen. Doch dann besuchte ich ihn, ich lief drei Tage durch den Wald und fand es wunderbar. Als ich dann wieder fahren wollte in Richtung Irland, stand eine Bäuerin auf der Straße. Ich hielt an und aus einer spontanen Idee heraus fragte ich sie, ob es hier eine Wohnung zu vermieten gebe. Seither wohne ich in Eschenau.

Sie sind in den Niederlanden geboren, in Alkmaar. Welchen Wald gibt es dort?

Die Leute hier würden sagen: Steckeleswald, Hauptsächlich Fichten in Pflanzungen. Für mich war es schon als Kind klar, dass ich kein Stadtmensch bin und in der Nähe des Waldes leben möchte. Ich wollte gerne emigrieren nach Australien, weil es dort eine Menge Natur gibt. Oder eben Irland. Aber dann verschlug es mich in den Steigerwald.

Wie kein zweiter Künstler der Gegenwart beschäftigen Sie sich mit dem Thema Natur. Zuvor waren Sie aber als Gärtner tätig…

Ja, ich habe Gartenbau studiert und für zwei biologische Institute gearbeitet. Im ersten habe ich Untersuchungen über Rattenbekämpfung gemacht, im zweiten forschte ich zum Kiefernspanner. Und dann arbeitete ich noch über Hasen und kleine Raubtiere.

Was fanden Sie heraus?

Etwa, dass Wiesel, Iltise und Hermeline kaum Hasen fressen. Das konnten wir mit Untersuchungen des Mageninhalts feststellen. Damit widersprachen wir einer Behauptung von Jägern: dass kleine Raubtiere Einfluss auf die Hasenpopulation haben. Das ist nichts als Brotneid.

Beschäftigt man sich mit ihrem künstlerischen Werdegang, fallen zwei Phasen in Ihrem Werk auf: bevor Sie mit Natur arbeiteten, malten Sie sehr abstrakt. Wie geht das zusammen?

Ich habe in den 1960er Jahren als konkreter Künstler gearbeitet. Mein Ziel war damals, Bilder zu schaffen, die komplett frei von Inhalt sind, aber eben doch streng komponiert. Ich verwendete Zufallsverteilungen, etwa Abfolgen von geraden und ungeraden Zahlen. Die hatten Einfluss hatten auf Formelemente des Bildes. So schaffte ich es, ohne Interpretation der Wirklichkeit zu Kompositionen zu kommen.

Klingt so ziemlich wie das Gegenteil von dem, was Sie heute machen: Blätter, Erden und Hölzer sammeln und zusammenstellen.

Die Programme, die ich für meine Bilder entwickelte, wurden dann komplexer – und so entdeckte ich die Natur. Ich nutzte zum Beispiel Verteilungsdiagramme, wie weit die Samen von Kiefern durch den Wind getragen wurden. Eines Abends saß ich dann zusammen mit meiner Frau, rauchte meine Haschpfeife, und wir diskutierten darüber, wie ich noch komplexere Modelle finden und die in meine Zufallsartefakte übertragen könnte. Und plötzlich kam mir, dass die Natur das beste Modell ihrer selbst.

Was waren ihre ersten Arbeiten in dieser Richtung?

Ich gestaltete etwa Reihen von Blättern derselben Pflanze und es wurde deutlich, dass jede Realisierung der Natur eine neue Form ist. Es wiederholt sich nie etwas. Oder ich legte im Herbst ein großes Blatt Papier unter einen Baum und klebte das Laub, an der Stelle fest, an der es landete. Das war eine Momentaufnahme eines Prozesses, den wir täglich wahrnehmen, uns aber als solchen nicht bewusst machen.

Inwieweit ist ihre konkrete Umgebung, der Steigerwald, wichtig für Ihre Arbeit?

Sehen Sie sich das hier an.

Er zeigt auf eine Reihe von 24 massiven Holzblöcken in Buchform.

Das ist die „Steigerwald-Holzbibliothek“. Dabei handelt es sich um Hölzer, das hier aus der Gegend stammen, Douglasien, Walnuss, Kirsche, Fichte, Esche und so weiter. Alle diese Hölzer werden genutzt. Aus der Zwetschge werden etwa Perlen für Rosenkränze hergestellt, aus der Eberesche Spazierstöcke. Es dauerte zwei Jahre, bis ich alles Holz zusammenbekam. Was mich daran interessierte: das Holz ist ein „Modell seiner selbst“. Alle Informationen, die wir theoretisch über das Holz sammeln können, sind in diesen Blöcken enthalten.

Man könnte ihrem Werk nun vorwerfen, dass es sich nach einem Naturzustand sehnt, dass es eine Art Rückzug ist. Wie stehen Sie dazu?

Der Künstler hat die Aufgabe, verdeckte Prozesse bewusst zu machen. In unserer Gesellschaft konzentriert sich die Kultur in den Städten. Da kann man zeigen, dass es auch ein Außen davon gibt. Und dass dieses Außen noch dazu unser Ursprung und bis heute unser Ausgangspunkt ist. Ohne die Natur gäbe die Gesellschaft nicht. Es geht mir darum, diese Basis, auf der wir alle agieren, zu zeigen.

Ein Aspekt der Natur, den sich viele Menschen nicht bewusst machen, ist die Endlichkeit alles Seienden. Beschäftigen Sie sich viel mit diesem Thema?

Ja, das stimmt. Eines Tages ist alles vorbei. Ich bin froh, dass ich mich nicht mit Wiedergeburt oder so etwas beschäftigen muss. Man ist gekommen und man geht wieder. Aber das ist eine wichtige Zeit und die muss man so gut nutzen, wie es geht. Das versuche ich. Ich werde den Zeitpunkt meines Verschwindens noch hinauszögern. Heuer wurde ich 85. Das will ich noch erleben. Was danach auch so weitergeht wie ehedem, ist die Natur.

Ein tröstlicher Gedanke?

Ja, sehr Ich reiste einmal durch Persien, da kam ich durch eine Landschaft, in der sehr gleichmäßig lauter kleine, bewachsene Hügel standen. Das war vor Jahrhunderten eine Siedlung von Lehmhäusern, die nun zu Hügel geworden sind. Die Natur gewinnt immer. Stürbe die Menschheit aus, man sähe in einigen Tausend Jahren nichts mehr von ihr. Das ist beruhigend. Stürbe die Menschheit aus, man sähe in einigen Tausend Jahren nichts mehr von ihr.

herman de vries (als Künstlername absichtlich klein geschrieben) wurde 1931 im Niederländischen Alkmaar geboren. In den 1950er Jahren arbeitete er als Gärtner und Biologe, daneben war er Künstler. In der ersten Werkphase malte er abstrakte, zum Teil fast weiße Bilder, danach wandte er sich der Natur zu. Seine Arbeiten sind heute in den wichtigsten Museen für Gegenwartskunst vertreten. Eines seiner bekanntesten Werke in Deutschland ist das „Sancutarium“ in Stuttgart: eine eingezäunte Verkehrsinsel, auf der seit Jahrzehnten natürliche Vegetation wuchert. 2015 gestaltete de vries den niederländischen Pavillon auf der Biennale in Venedig. Danben ist er Autor zahlreicher ästhetischer, philosophischer und naturwissenschaftlicher Schriften

Welt am Sonntag

Dünnes Eis

Die Begrüßung war einst eine hochkodifizierte Handlung. Heute artet sie regelmäßig in einen peinlichen Tanz aus – weil die Standards brüchig geworden sind

Eine Frau trifft auf einen Mann. Es ist Abend, die beiden befinden sich in einer Bar oder auf einer Party, reichen sich zum Gruß die Hand. Doch innerhalb des Bruchteils einer Sekunde merkt sie: »Oha, da stimmt etwas nicht.« Er wendet ihre Hand horizontal und führt sie – »Mein Gott, er tut es wirklich!« – in Richtung seines Mundes. Es droht: ein Handkuss.

Noch vor wenigen Jahrzehnten galt der Handkuss als korrekter, sehr formaler Gruß, eine Ehrerbietung an eine geachtete Dame. Heute ist er meist eine hündisch-anzügliche Geste, die die Intimsphäre der Frau durchschlägt wie ein Geschoss.
Dass dieser zweifelhafte Gruß überhaupt gewagt wird, liegt daran, dass Standards in Sachen Begrüßung brüchig geworden sind. Es herrscht Unklarheit darüber, wer wann und wo mit welcher Geste und welchem emotionalen Einsatz begrüßt werden soll. Und vor allem: was aus welchem Gruß zu schließen ist. Lagerte da die Hand beim Küsschen-Küsschen ein bisschen zu lange oder zu massierend auf der Schulter? War das Absicht, Ungeschicktheit, oder macht die oder der das eben so? Alles ist möglich – und alles kann falsch sein. Wie der Handkuss: Der kann in seiner Schlüpfrigkeit genau erwünscht sein – jedoch auch Entsetzen auslösen. Das Problem scheint in seiner Peinlichkeit immerhin so bekannt zu sein, dass inzwischen in Führungskräfteseminaren für Frauen eine Abwehrstrategie eingeübt wird. Merkt die Frau, dass ihre Hand gegen ihren Willen geküsst zu werden droht, umfasst sie mit der freien Linken das Gelenk ihres Gegenübers und verwandelt so den drohenden Kuss in einen jovial-tätschelnden, altväterlichen Zweihandgruß.
In diesem Fall steht der verhinderte Handküsser da wie ein begossener Pudel. Bei anderen Formen der problematischen Begrüßung ist die Peinlichkeit gerecht auf beide Parteien verteilt. Etwa: Man nähert sich einer Gruppe von drei Personen, von denen man zwei gut kennt. Die begrüßt man herzlich mit Umarmung oder Kuss. Doch was tun mit der oder dem Dritten? Handschütteln oder ein bloßes »Hallo« könnte abweisend wirken. Doch fällt man sich in die Arme, ist das schnell zu viel. Oft resultiert ein seltsamer Tanz mit vorgestreckten Händen und gespitzten Lippen aus dieser Situation. Und schon hat die neue Bekanntschaft Schlagseite. Ebenfalls ein Elend: Zwei Männer begrüßen sich, und weil sie Emotionen zeigen wollen, wählen sie die Umarmung. Im selben Augenblick aber merken sie, dass sie sich mit der ungewohnten körperlichen Nähe doch nicht so wohlfühlen. In einer aus Peinlichkeit und latenter Homophobie gespeisten Übersprungshandlung beginnen sie, sich gegenseitig wie wild auf die Rücken zu klopfen. So dauert das ganze Ritual noch viel länger, und beide lösen sich aus der unheilvollen Umklammerung wie geschlagene Hunde.

So hat sich die Begrüßung längst zu einem internationalen Selbsthilfethema entwickelt. Im Netz häufen sich verzweifelte Fragen wie: »How do I get strangers to stopp hugging me?« – und werden mit hilfreichen Antworten versehen, etwa: Man solle zusehen, auf Partys stets in der einen Hand ein Glas, in der anderen einen Happen Fingerfood zu halten. Die tropfenden und fettenden Utensilien wirkten auf »Hugger« wie Weihwasser auf den Leibhaftigen.
Wir haben uns an diese Unsicherheit gewöhnt, historisch betrachtet sticht sie jedoch krass heraus aus der Tradition des Grußes. Denn dieser ist – oder besser gesagt: war – gemäß seiner sozialen Funktion die wohl am meisten kodifizierte Handlung. Zum einen können damit sehr differenziert Rangunterschiede ausgedrückt werden, weshalb Grußregime umso komplexer sind, je stärker eine Gesellschaft oder soziale Gruppe in Schichten und Hierarchieebenen unterteilt ist (Extremfall: das Militär). Die zweite Funktion des Grußes hängt damit eng zusammen. Mit der richtigen Begrüßung versichern sich potenziell Fremde, zur gleichen Gruppe zu gehören und deren soziale Standards zu akzeptieren. Die korrekte Begrüßung zeigt: »Ich kenne die Regeln, wie ich mich im Folgenden zu verhalten habe.« Glückt die Kompaktkommunikation zu Beginn eines Treffens, zeigt sie sogleich, dass man sich grundsätzlich versteht. Soziologisch kann man von »Grußgemeinschaften« sprechen. Einheitliche Grußsitten verweisen immer auf homogene, stabile Gruppen – wie das Beispiel von Gangs zeigt, die den Standard-Handshake um verschiedene Varianten von Faustbewegungen und Fingergehakel ergänzen.
In älterer Reiseliteratur wurde sich gerne über fremde Grüße mokiert. So wunderte sich der englische Schriftsteller William Howitt bei einer Deutschlandreise in den 1840er-Jahren über die Sitte junger Männer – es war die jungdeutsche Studentenbewegung – , sich zur Begrüßung heftig in die Arme zu fallen. Er berichtet von einem Unglücklichen, der dabei so heftig geklopft wurde, dass er eine dauerhafte Lähmung davontrug (das als Warnung an die verschämten Schulterklopf-Umarmer unserer Tage).

Es liegt auf der Hand, dass in der heutigen – räumlichen wie sozialen – Mobilität ein Grund unserer prekären Grußverhältnisse zu suchen ist. Wer nach Frankreich zieht, kann sich noch mittels einer Landkarte über die obligatorische Anzahl der bisous informieren (eines in der Bretagne, zwei in Lyon, drei im Midi, vier südlich von Nantes und epische fünf in einigen Binnenregionen von Korsika). Aber schon in jeder international geprägten Großstadt ist so eine klare Zuweisung unmöglich. Hinzu kommt, dass fremde Grußsitten postmodern angeeignet werden. So ist unter Hollywood-Bewohnern, die sich vor unhygienischem Körperkontakt ängstigen, der thailändische Gruß en vogue – Hände falten und kurz mit dem Kopf nicken – , weil sich auf diese Weise Hugger und Shaker gut abwehren lassen.

Der wohl noch wichtigere Grund für die Korrosion des verbindlichen Grußes dürfte jedoch in einer Entwicklung liegen, die der amerikanische Soziologe Richard Sennett schon 1977 in seinem Buch »Verfall und Ende des öffentlichen Lebens« beschrieben hat. Sennett erklärt darin einen Zug der Moderne, der durch die Gegenkultur der 60er-Jahre noch einmal verstärkt wurde, dessen Anfänge aber schon viel weiter zurückliegen: die Skepsis gegenüber formalem Verhalten, das als unauthentisches, bedeutungsloses Theater denunziert wird. Ersetzt worden sei diese durch die »Tyrannei der Intimität«, den Zwang, ständig sein Innerstes zur Schau zu tragen. Angesichts des in Talkshows herrschenden Geständniszwangs ist diese Diagnose nicht von der Hand zu weisen. Und auch die Angst, mit einem formal korrekten Handschlag das Gegenüber zu brüskieren, sowie der Aufstieg des herzigen »Hugs« lassen sich damit erklären. Paradox daran ist nur, dass auf diese Weise die von Sennett beschriebene moderne Angst, unaufrichtig zu handeln, erst recht zur Realität wird: Man will doch nicht wirklich all die Menschen an sein Herz drücken, die einen heutzutage umarmen. Gerade die Umarmerei löst bei manchen erst einen neuartigen Widerstand aus – und unterfüttert so einen weiteren Trend der Gegenwart: die wuchernde Neigung, sich von allem und jedem belästigt zu fühlen. All das verhindert den Aufstieg der Umarmung zum neuen Universalgruß.
Die Sehnsucht nach der einen Grußformel mag groß sein. Gäbe es aber plötzlich wieder verbindliche Sitten, verwiese das auf die Segregation der Gesellschaft in geschlossene Untergruppen. Offene Gesellschaften müssen Unsicherheiten ertragen – und peinliche Partysituationen sind davon die harmloseren.
Außerdem können auf diesem dünnen Eis erstaunliche Tänze aufgeführt werden. So ist ein Münchner Journalist dafür bekannt, im Alkoholrausch emotional zu werden. Erblickt er Bekannte, Frauen wie Männer, stürzt er auf sie zu, umfasst ihr Gesicht mit einem Schraubstockgriff, ruft laut »Auf den Mund!« und küsst sie innig auf ebendiesen. Man sollte glauben, dass der Anteil der Personen, denen diese Überrumpelung gefällt, im Promillebereich rangiert. Aber das Gegenteil ist der Fall. Alle, in deren Brust ein Herz schlägt, freuen sich. Wenn es stimmt, dass die Begrüßung die folgende Interaktion leitet, ist diese Freude auch begründet. Weil man weiß: Der Abend wird wild.

Wired

High Performers

Als in Kalifornien einst die Tech-Industrie entstand, waren viele ihrer Vordenker auf LSD. Nun feiern Psychedelika im Silicon Valley eine Renaissance

Als ich herzog«, sagt Pawel, »hatte ich von Drogen keine Ahnung, außer von Cannabis.« Pawel heißt in Wahrheit anders, lässt sich aber lieber unter Pseudonym zitieren. Denn er hat eigentlich zwei Identitäten.

Einerseits ist Pawel einer jener High Potentials, die in Kalifornien mit Anfang 30 so viel Geld verdienen wie ein deutscher Sparkassendirektor kurz vor der Rente. Pawel wurde in den frühen 80er-Jahren in Osteuropa geboren, kam über einige Stationen nach Stanford, studierte dort humanities, verstand aber auch viel von Technik und Wirtschaft. Heute arbeitet er als Consultant in Palo Alto und bewohnt mit zwei Codern eine weitläufige Villa.

Andererseits gehört Pawel mittlerweile aber auch zur großen Psychedelika-Gemeinde des Silicon Valley. Pawel ist in jedem Sinne gern high. Bloß sind der Genuss und die Verbreitung von psychedelischen Drogen wie LSD, DMT, der Pilzdroge Psilocybin und MDMA – der Hauptbestandteil von Ecstasy – auch im liberalen Kalifornien illegal. Noch jedenfalls.

Wer in Kalifornien Cannabis konsumieren möchte, hat es hingegen heute schon leicht. Man geht einfach zu einem einschlägig bekannten Arzt, erzählt was von Rückenleiden oder Unwohlsein, zahlt zwischen 30 und 100 Dollar und erhält die Erlaubnis, in einem der marijuana dispensaries, die mit ihren Milchglasschaltern so aussehen wie Apple Stores, Gras zu kaufen. Erstaunlich daran ist eigentlich nur, wie normal das mittlerweile ist. Vor wenigen Jahren noch mussten Kiffer ihren Stoff bei dubiosen Dealern kaufen. Heute ist das cannabusiness mit einer jährlichen Wachstumsrate von 75 Prozent der vitalste Wirtschaftssektor in den USA, der bald zehn Milliarden Dollar pro Jahr umsetzt. Im Eiltempo wurde Cannabis enttabuisiert. Es dürfte nicht die letzte Droge gewesen sein, die der Illegalität entrissen wird.

In Kalifornien gibt es nicht wenige, die davon ausgehen, dass psychedelisch wirkende Substanzen bald wieder legal sein werden – und es dann einen ähnlichen Boom geben wird wie heute um Cannabis. Seit ein paar Jahren bereits dürfen mit MDMA und Psilocybin in einigen Ländern wieder medizinische Versuche durchgeführt werden, in den USA, aber auch in Kanada, Israel und der Schweiz etwa. Dazu kommt, dass der Konsum bewusstseinsverändernder Substanzen gerade eh eine Wiederentdeckung erlebt. Zehntausende Menschen pilgern jährlich nach Südamerika, um sich dort auf eine Jenseitsreise des Geistes zu begeben: mittels des Schamanen-Getränks Ayahuasca, einem DMT-Sud. Und auch in der Popkultur, auf Festivals wie dem Burning Man oder in der Musik von Animal Collective und A$AP Rocky, wird an den Pforten der Wahrnehmung gerüttelt wie seit Langem nicht mehr.

Vielleicht am deutlichsten aber wird die psychedelische Renaissance im Silicon Valley. Hier arbeitet eine wachsende Zahl von Forschern, Aktivisten und Techies daran, die Erkundung, Manipulation und womöglich auch Erweiterung des Bewusstseins mit entsprechenden Substanzen nicht nur zu legalisieren, sondern auf ein neues Niveau zu heben. Und damit auch den Menschen an sich.

In Filmen oder Serien wie Silicon Valley (in der der Psychedelika-Konsum eines Protagonisten gezeigt wird) werden Valley-Bewohner stets als vollbärtige, schreiend gut gelaunte Surfer-Hacker mit bunten Shirts dargestellt.

Pawel ist anders, ein schmächtiger junger Mann mit auffallend gerader Haltung, der die Haare gescheitelt trägt und in seiner Freizeit lieber deutsche oder französische Lyrik liest, als am Computer zu zocken. In gefälligem Deutsch – das er neben seiner Muttersprache sowie Spanisch und Englisch perfekt spricht – erzählt er von seinen kalifornischen Erfahrungen mit den Stoffen fürs gehobene Bewusstsein.

Natürlich nimmt nicht jeder Bewohner des Silicon Valley psychedelische Drogen; und natürlich sind auch hier, wie überall, wo viel und lange gearbeitet wird, leistungsfördernde smart drugs wie Ritalin oder Modafinil die am häufigsten verwendeten psychotropen Stoffe. »Aber es herrscht eine allgemeine Akzeptanz gegenüber psychedelischen Erfahrungen«, sagt Pawel. »Mehr noch: Man berichtet von seinen Trips mit einem gewissen Stolz.« Schon auf der allerersten Tech-Konferenz, auf der Pawel im Valley war, wurde offen darüber geredet, und zwar von »Personen, die von jeder Subkultur so weit entfernt waren, wie man es sich nur vorstellen kann: einem Berater, einem Anwalt und einem Technikjournalisten«. Allen sei aber bewusst, dass diese Offenheit nur hier herrsche. »Es ist eine Art Insider-Ding«, sagt Pawel. Wenn etwa Anzugträger von der Ostküste mit einem lockeren »Hi« an den Tisch träten, dann verstummten Gespräche über die unendlichen Windungen des Kaninchenbaus schnell.

Der entspannte Umgang mit Psychedelika, gerade auch bei Techies, hat Tradition in Kalifornien. Schon bevor die Hippies Mitte der 60er-Jahre nach San Francisco zu strömen begannen, war LSD in die sich entwickelnde Tech-Industrie der Bay Area eingesickert. Verantwortlich dafür war vor allem ein Mann namens Myron Stolaroff. Der arbeitete als technischer Designer und Vertriebschef für Ampex, den damaligen Weltmarktführer für Audio- und Videoaufnahmetechnik, und hatte über einen Bekannten, den Schriftsteller Gerald Heard, von der bewusstseinserweiternden Wirkung von Psychedelika erfahren. Also probierte Stolaroff LSD. Und war derart euphorisiert, dass er auf eine unkonventionelle Anwendung kam: Könnte die Substanz, die ja auch die Klarsicht fördern kann, nicht bei Schwierigkeiten in der Firma weiterhelfen, etwa beim Produktdesign?

Eher nicht, fand das Management von Ampex. Doch das entmutigte Stolaroff nicht. Er kündigte und gründete 1960 die International Foundation for Advanced Study (IFAS) in Menlo Park. Deren Ziel war die Erforschung von LSD und Meskalin als Mittel zur effektiven Lösung von Problemen. Im Laufe der nächsten Jahre besuchten viele Ingenieure und Designer aus den Tech-Unternehmen der Gegend die IFAS, um unter dem Einfluss von 100 Mikrogramm LSD (eine mittlere Dosis) technische Hürden zu überwinden.

James Fadiman, ein eleganter, mittlerweile 76-jähriger emeritierter Professor, begleitete damals als Psychologe die Versuchsreihen: »Wir fanden heraus, dass die Teilnehmer Muster besser wahrnehmen konnten. Sie sahen, in welchem Netzwerk die Dinge eingebettet waren, die sie bearbeiten wollten. Sie erkannten Verbindungen, die sie vorher übersehen hatten.«

Einer der frühen Gäste der IFAS war Douglas Engelbart, der später die Computermaus erfinden sollte und einer der entscheidenden Köpfe der Konstruktion des Arpanets war, des Vorläufers des Internets. Engelbart schrieb 1962 in seinem Aufsatz Augmenting Human Intellect von einem Computer, der dabei helfen sollte, das Potenzial des menschlichen Geistes umfassender zu entfalten. Sein Augmentation Project mündete in einer Präsentation, die bis heute im Silicon Valley als »the mother of all demos« gilt. Während der Fall Joint Computer Conference 1968 in San Francisco führte Engelbart Dinge vor, die damals völlig neu waren. Über ein Headset, das seine Stimme metallen übertrug, erklärte der Computerwissenschaftler die Eingabe von Text über eine Tastatur, dessen Verschieben mithilfe einer Maus und grafische Elemente wie zum Beispiel ein »window«, das die Benutzeroberfläche eines Programms rahmte.

Nach den anderthalb Stunden Präsentation war die Computerwelt eine andere. Die Erfindungen von Engelbart und seinem Team, zu dem auch James Fadiman gehörte, trugen etwas später zur Konstruktion des ersten Personal Computers der Geschichte bei, dem Xerox Alto. (Engelbart und Stolaroff starben beide im Jahr 2013, hochbetagt und ziemlich vergessen von der Welt.)

Einer der Assistenten von Engelbart bei der Präsentation 1968 war Stewart Brand, der im selben Jahr erstmals den Whole Earth Catalog herausgab, eine Sammlung von Texten über die Dinge, die man aus Sicht von Brand zum Leben in der Gegenkultur brauchte. Im Jahr 2005 nannte Steve Jobs bei einer Rede in Stanford den Whole Earth Catalog »die Bibel meiner Generation: Es war eine Art Google in Taschenbuchform, 35 Jahre bevor es Google gab.«

Fadiman bestätigt heute ebenfalls, dass die kalifornische Gegenkultur der 60er-Jahre damals großen Einfluss auf das Augmentation Project hatte. Es wurde gekifft und LSD genommen, von Engelbarts Leuten ebenso wie von denen des befreundeten Stanford Artificial Intelligence Lab (SAIL). Dort wurde nicht über die Erweiterung des menschlichen Gehirns nachgedacht, sondern über dessen künstliche Nachbildung. Immer wieder besuchten junge Enthusiasten aus dem Valley SAIL. Unter ihnen waren auch Steve Jobs und Steve Wozniak, aus deren Homebrew Computer Club Apple erwuchs. Jobs erwähnte später wiederholt, wie wichtig LSD für ihn und Apple gewesen sei. James Fadiman sagt: »Ich glaube, LSD hat Jobs’ Denken über Ästhetik verändert. Denn das Tolle an Apple-Produkten ist ja, dass sie nicht nur außen, sondern auch innen, wo man sie nicht betrachten kann, schön sind. Jobs sah nicht nur eine Seite der Medaille, Er sah beide.«

Wie viel LSD steckt also noch in den Produkten und Prozessen, der Hard- und Software, die heute die ganze Welt benutzt? Jedenfalls sind viele ihrer Urformen von Menschen erfunden worden, die psychedelische Erfahrungen nicht nur für Freizeitvergnügen hielten.

Und diese Verbindung zwischen Tech-Industrie und Psychedelika riss nie ab. In den frühen 90er-Jahren entwarf der LSD-Enthusiast und einstige Bürgerschreck Timothy Leary Computerspiele wie Mind Mirror, das bei Electronic Arts erschien. Leary sagte: »Der PC ist das LSD der 90er-Jahre.« Ein Satz, der das Dogma der Cyberdelics wurde: einer Gruppe, deren Mitglieder Psychedelika und Hackertum zugeneigt waren, Teil der Techno-Szene wurden und den Cyberspace zur Bewusstseinserweiterung nutzen wollten. Ihren Life-style begleiteten Cyberpunk-Magazine wie High Frontiers und Reality Hackers, die später zu Mondo 2000 (heute: boingboing.net) wurden und so was wie Vorläufer von WIRED waren.

Heute erleben Psychedelika nicht nur als kreative Impulsgeber eine Renaissance im Silicon Valley, es wird auch wieder deren Wirkung auf unsere Hirntätigkeit erforscht, so wie es Stolaroff und Fadiman in den 60er-Jahren getan haben. In Stanford knüpft Andrés Gómez Emilsson an deren Erkenntnisse an. Emilsson ist 24, Mathematikgenie und Präsident der Stanford Transhumanist Association, einer Studentenvereinigung, die sich mit den ethischen und technischen Fragen der künstlichen Erweiterung menschlicher Fähigkeiten befasst. Das Interesse Emilssons gilt unserer Wahrnehmung und dem Einfluss von Psychedelika auf sie. Dafür untersucht er, in welcher Form Menschen bestimmte Texturen – zum Beispiel die Rinde eines Baumes, Mauerwerk oder die Oberfläche eines Tisches – einerseits nüchtern und andererseits under the influence erfassen.

Emilsson ist überzeugt davon, dass unser Bewusstsein wie ein Computer prozessgetrieben ist, er nennt es Qualia Computing: dass es bestimmten Algorithmen folgt, die unsere Wahrnehmung beeinflussen und uns Menschen im Laufe der Evolution einen Vorteil verschafften. Dass wir unsere Sinne im nüchternen Zustand aber auf die bestmögliche Art nutzen, ist deswegen keinesfalls sicher. Anzeichen dafür sind, dass schon in den Studien von Stolaroff herauskam, dass man auf LSD unter anderem Größenverhältnisse sehr viel besser einschätzen kann.

Emilssons Arbeit besteht nun darin, Paradigmen zu bestimmen, die psychedelische Bewusstseinszustände präziser beschreibbar machen; und außerdem zu prüfen, wie diese in Zukunft die Wahrnehmung des Menschen verbessern könnten. Er folgt also der transhumanen Idee, das menschliche Dasein durch Technik auf eine höhere Ebene zu bringen. Aus europäischer Perspektive erscheint das gelinde gesagt exotisch, im Silicon Valley wundert sich niemand darüber. »Ich habe hier in Stanford noch keinen Professor getroffen, der keine Erfahrung mit Psychedelika gemacht hat«, sagt Emilsson. »Und wenn ich mich bei Start-ups um Jobs bewerbe, halte ich in den Vorstellungsgesprächen nicht mit meinen Interessen hinter dem Berg – was kein Problem ist, denn die CEOs sind dann schnell dabei, von ihren eigenen Trip-Erlebnissen zu erzählen.«

Emilssons Qualia-Computing-Projekt ist Teil einer größeren Bewegung im Valley, die sich dem conscious engineering verschrieben hat, also der Manipulation unseres Bewusstseins und unseres Stoffwechsels, um letztlich eines der drei Ziele des Transhumanismus zu erreichen: die universelle superhappiness (neben superintelligence und superlongevity). Ginge es nach den Transhumanisten, soll jeder Mensch in Zukunft seinen Bewusstseinszustand kontrollieren können. Traurigkeit und depressive Leiden würden der Vergangenheit angehören. Als exemplarischen Superhappiness-Zustand betrachten Trans-humanisten wie der Philosophieprofessor David Pearce, ein enger Freund Emilssons, die euphorische Gemütslage auf MDMA: Wäre unser Leben nicht viel erfüllter, wenn man unsere Gehirnstruktur so verändern würde, dass wir grundsätzlich einfühlsam, liebevoll und interessiert sind, unsere Stimmung immer in Balance bleibt, wir nie in die Spiralen des Negativen geraten? Noch steht die Forschung in diesen Bereichen am Anfang. Auch weil psychedelische Substanzen bis jetzt eben fast nur in medizinischen Studien verwendet werden dürfen. Doch Emilsson und seine Kollegen gehen davon aus, dass LSD und MDMA ähnlich wie Cannabis bald wieder legal sein werden. Sie schaffen gerade die Grundlagen für einen neuen Wissenschaftszweig, der in ein paar Jahren das Menschsein wesentlich umgestalten soll.

Die Arbeit mit MDMA spielt bereits eine Rolle im Valley. Der Designstudent Samuel Rockwell etwa arbeitet gerade in Stanford an seiner Abschlussarbeit, er entwirft einen Session-Raum für die psychotherapeutische Behandlung mit MDMA. In mehreren klinischen Tests wurde belegt, dass MDMA-gestützte Therapien bei posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) eine Erfolgsquote von 83 Prozent haben und damit eine etwa viermal so hohe wie herkömmliche. Die Ergebnisse sind so eindeutig, dass selbst die U.S. Army bereits beginnt, MDMA als therapeutisches Mittel zu akzeptieren. Die Probleme mit PTBS sind gerade bei Kriegsheimkehrern zu gewaltig, laut Statistik bringen sich in den USA täglich 22 traumatisierte Soldaten um.

»Besonders die Behandlungszimmer in den Veteranenkrankenhäusern sind oft klinische, kalte Räume ohne natürliches Licht«, sagt Rockwell. »Wir scherzen immer, dass wir einen Krieg gegen die Farbe Beige führen.« Er und sein Team haben eine leichte, transportable Kuppel aus geflochtener Baumwolle entworfen, die in den üblichen Therapiezimmern installiert werden kann. Sie schafft einen geschlossenen Multimedia-Rahmen, in dem der Patient selbst bestimmen kann, welche Lichtstimmung ihm den Zugang zur MDMA-Erfahrung erleichtert, welche ihn wieder sanft in die Nüchternheit zurückführt und welche Musik ihm hilft, sich tiefgehender mit sich selbst auseinanderzusetzen. »Für den Therapieerfolg ist es sehr wichtig, dass der Patient die Kontrolle über seine Umwelt behält«, sagt Rockwell. Um bessere Kenntnisse über Anforderungen und Umstände der MDMA-Therapie zu erhalten, tauscht er sich immer wieder mit den Leuten von MAPS aus.

MAPS steht für Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies und ist eine Non-Profit-Forschungsorganisation, die von dem Psychologen Rick Doblin gegründet wurde. Eines ihrer Ziele ist es, Psychedelika zu enttabuisieren. Dafür, sagt Doblin, müsse die Öffentlichkeit davon überzeugt werden, »dass Substanzen wie MDMA oder Psilocybin einen medizinischen Nutzen haben«. Deshalb organisiert und finanziert MAPS klinische Tests, die das belegen sollen. Die Studien sind teuer, Doblin muss ständig Spenden sammeln – und am erfolgreichsten ist er im Silicon Valley. »90 Prozent unserer Einnahmen stammen von zehn Prozent unserer Spender, und die sind alle Techies aus dem Valley: Leute, die in den vergangenen 30 Jahren sehr viel Geld verdient haben.«

Vor Kurzem eröffnete MAPS ein Büro in Palo Alto, um auch die jungen High Potentials für sich zu gewinnen. Das geschieht mit Fundraising-Veranstaltungen, auf deren Einladungen das Wort psychedelic durch transformative medicine ersetzt wurde. Dem Althippie Doblin ist diese Art Tarnung zuwider, aber er akzeptiert die Spielregeln. Sein Masterplan geht so: Läuft alles gut, wird MDMA in den USA 2021 als Medikament freigegeben, MAPS wird dann eine Fünfjahreslizenz haben, um den Stoff zu vermarkten. »Das wird zwischen 20 und 50 Millionen Dollar in unsere Kassen spülen«, sagt Doblin. Damit sollen Studien finanziert werden, die auch die anderen psychedelischen Substanzen enttabuisieren und deren Legalisierung vorantreiben sollen.

So lange wollte Pawel nicht warten. Bald nachdem er auf der Tech-Konferenz den Trip-Berichten lauschte, fuhr er nach Peru, um dort Ayahuasca zu trinken. »Es war das Intensivste, Erstaunlichste und Schönste, was ich je erlebt hatte«, sagt er. Zurück in Palo Alto, mietete er sich eine alte Kapelle, die verborgen liegt zwischen riesigen Redwoods. Hier verbringt Pawel seine Wochenenden – und trinkt Ayahuasca.

Für Pawel ist die Annahme Quatsch, dass Psychedelika High Potentials wie ihm milliardenschwere Geschäftsmodelle einflüstern könnten. »Für mich sind diese Wochenenden eine spirituelle Erfahrung. Die hat wenig mit alten Riten zu tun, dafür sehr viel mit mir. Ich höre mir auf Ayahuasca gerne Lyrik-Lesungen an, etwa Rilke. Sinn und Klang ergeben völlig neue Muster, es ist, als vernähme und verstünde ich eine neue Sprache. Ich will Neuland betreten.«

Pawel glaubt zu wissen, wieso man gerade in dieser Gegend in Kalifornien für die Erforschung des eigenen Bewusstseins so aufgeschlossen ist: Das hänge mit einem Buch zusammen, das im Valley jeder kenne, The Black Swan von Nassim Nicholas Taleb. Darin geht es um Ereignisse, die enorm unwahrscheinlich sind und deshalb immer unerwartet. Wenn sie jedoch eintreten, haben sie den größtmöglichen Effekt auf unser Weltbild, unser Wissen.

»Jeder hier träumt davon, einen schwarzen Schwan zu finden, mit einer kleinen Erfindung die Organisation des Wissens zu revolutionieren«, sagt Pawel. »Nur ist die Welt heute bis in ihre Atome erforscht. Es scheint immer schwieriger zu werden, auf etwas komplett Unerwartetes zu stoßen.«

Vielleicht ist es einfach so: Wenn die Menschen glauben, dass es draußen gerade nichts zu entdecken gibt, führen ihre Forschungsreisen nach innen.

Süddeutsche Zeitung am Wochenende

Es wird eng

128 Quadratmeter hat eine fünfköpfige Familie in Deutschland im Durchschnitt zur Verfügung. Doch in boomenden Großstädten wird sich das wohl ändern. Leben auf wenig Raum ist da schon jetzt eine gute Schule für die urbane Zukunft, findet unser Autor. Man muss sich nur mit dem Prinzip Stapel anfreunden

Genau 35 Quadratmeter: So groß war die Wohnung in Regensburg, in der meine Großeltern mit meinem Vater und meinen beiden Tanten wohnten. Die drei Kinder hatten ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer. Es waren die 1950er-Jahre, die Wohnungen waren nun mal so, und die Nachbarn hieltenes ähnlich. Sieben Quadratmeter pro Person – diese Zahl habe ich also vor Augen, wenn ich im Eingangsbereich unserer 85 Quadratmeterwohnung über Dutzende Paar Schuhe stolpere, es Kämpfe um das Bad gibt oder im Kinderzimmer mal wieder wüste Revierstreitigkeiten toben. Dann imaginiere ich die Grundrisse von Wohnungen, in denen die Zimmer mit »Kind 1«, »Kind 2« und »Gäste-WC« bezeichnet sind und die 128 Quadratmeter groß sind. So wohnen fünfköpfige Familien nämlich heute im Durchschnitt in Deutschland.

Der Wohnflächenverbrauch hierzulande steigt stetig. 1948 wohnte man durchschnittlich auf zehn Quadratmetern pro erwachsener Person, 1990 auf 38, heute sind es im Schnitt schon 48. Nun bestreitet kein Mensch, dass esangenehm ist, sich überlegen zu müssen, ob man den Nachmittagskaffee lieber im Wohnzimmer, im Salon oder im Garten servieren möchte. Die Frage ist nur: Was ist einem dieser Luxus wert? Und können ihn die ächzenden Städte überhaupt leisten? Wir haben als fünfköpfige Familie entschieden, dass wir weder einen Großteil unseres Monatseinkommens fürs Wohnen ausgeben, noch in die öde Peripherie ziehen wollen. Dass die als Naturgesetz gehandelte Größer-ist-besser-Doktrin vielleicht gar nicht zu uns passt, fiel uns auf, als wir eine Wohnung besichtigten, die tatsächlich zwei Kinderzimmer hatte. Nachher meinte der Neunjährige: »Cool, dann gibt es ein Kinderschlaf- und ein Kinderspiel-Zimmer.« Bei der Frage, auf wie vielen Quadratmetern man wohnt, geht es heute aber nicht nur um finanzielle Mittel und Finderglück auf dem Wohnmarkt. Es geht um neue Interpretationen des Zusammenlebens. In der Familie, der Nachbarschaft, der Stadt.

Die Zukunft des urbanen Lebens besteht im Teilen

Wer beengt wohnt, muss sich frei machen. Vor allem von aktuellen Moden. Vom italienischen Designsofa, das auf 15 Quadratmetern im Wohnzimmer versenkt wird. Von der Kochinsel, der Frühstücksbar. Und vor allem: vom Schöner-Wohnen-Ideal einer mit nur sehr wenigen, dafür schicken Möbeln bestückten Wohnung. Vom Diktat des wohnlichen Weißraums, das uns in den Blogs und Magazinen entgegenkommt. Stattdessen herrscht eben Prinzip Stapel. Die Kinder schlafen bei uns gestapelt (in Stockbetten). In der Abstellkammer stapelt sich in Ökokisten, die man längst hätte zurückgeben müssen, Winterkleidung im Sommer und Sommerkleidung im Winter. Auf dem Kühlschrank stapeln sich Tomatendosen, im Bücherregal stapeln sich die Bücherstapel. Es ist übrigens kein Wunder, dass es die besten Stapelmöbel (Hängecontainer, Unterbettkommoden und Auf-dem-Schrank-Kisten) bei der japanischen Einrichtungs-Marke Muji gibt – in Tokio wohnt man auf durchschnittlich 15 Quadratmetern pro Kopf. In Fernost, in Taiwan und in Hongkong ist wegen des knappen Wohnraums der Trend zum sogenannten Microapartment auch am weitesten fortgeschritten. Dafür wirdzum Beispiel die Tradition des Klappbetts wiederbelebt. Etwas elaborierter: verschiebbare Wände, mit denen Kleinsträume geschaffen werden können. Eine befreundete Familie hatte das Problem, nur ein (großes) Zimmer für die beiden Kinder zu haben. Die Lösung: Der Vater baute zwei »Baumhäuser« unter die Decke, in denen sich die Betten und ein kleiner Tisch befinden. Die sind so gemütlich, dass die Kinder den Rest des Zimmers kaum noch nutzen. Auch der Sharing-Boom der letzten Jahre kommt uns notgedrungenen Platzsparern zugute. Eismaschinen oder Kantenschleifer muss man nicht mehr selbst besitzen, man kann sie etwa bei Leihdirwas.de für eine geringe Gebühr borgen. Von Menschen, die dafür noch Stauraum hatten.

Also, Platzsparen hört nicht beim Stapeln auf. Es ist jedoch klar, dass die Ausbeute endlich ist. Die Frage: Wie kann man beengt, aber gut wohnen, überschreitet schnell die Grenzen der eigenen Wohnung. Mark Michaeli ist Professor für »Nachhaltige Entwicklung von Stadt und Land« an der TU München. Er ist kein Freund der deutschen Krankheit Landfraß und sehr offen für dichtes Wohnen. Seine Devise mag zunächst banal klingen: »Wenig Wohnraum lässt sich dann aushalten, wenn die Umgebung attraktiv ist.« Das ist auch unsere Erfahrung: Einen ganzen Tag zu fünft in der Wohnung hält man nicht aus. Die Kinder müssen auslüften. Gut, dass Parks, Spielplätze und die Isar in der Nähe sind. Zur Not tut es auch der kleine Gemeinschaftsgarten. Michaelis Argument geht aber weiter: »Wir müssen uns fragen, was ›Zelle des Privaten‹ ist – das, worauf wir in unseren Wohnungen nicht verzichten können. Vielleicht Schlafzimmer, Küche, Bad. Alles andere kann ausgelagert werden«, sagt Michaeli. Es fängt bei der Waschmaschine an. Die stand früher auch in einer gemeinsamen Waschküche. Sich in der Stadt zu behaupten heißt eben auch, Gewohnheiten zu überdenken und auch mal den Komfort zu relativieren. Wer sich auf dem Land in sein Haus zurückzieht, will und kann da alles vorrätig haben: Pool, kinogroßen Fernseher, Espressomaschine etc. Der muss nie mehr raus, Zaun drum, eigenes kleines Fürstentum, fertig. Das sind aber alles Sachen, die man in der Stadt extern genießen kann. Also: abspecken. In Asien wird sogar oft auf die eigene Küche verzichtet – man isst und kocht stattdessen an der Straße. »Auch das Wohnzimmer ist verhandelbar, wenn es Gemeinschaftsräume im Haus gibt, die man bei Bedarf nutzen kann«, sagt Michaeli. Dasselbe gilt für einen Garten. »Wieso wollen Familien unbedingt einen Garten? Weil man die Kinder ohne Aufsicht rausschicken kann. Das aber geht auch in einem Gemeinschaftsgarten, sofern er eine Tür hat.«

Klingt alles utopisch? Aber derartige Wohnexperimente sind längt Praxis. In Amsterdam, Kopenhagen, Stockholm, auch in der biederen Ostschweiz. In Züricher Wohnprojekten wie »Dreieck« und »Kraftwerk« werden neue Formen des Zusammenlebens erprobt: Auf tendenziell wenig Privatwohnraum – dafür mit Gemeinschaftsräumen und (Dach-)Gärten. Auch sehr praktisch dabei: zumietbare Gästezimmer, die bei Leerstand als Hotelzimmer vermietet werden. Prinzipiell gibt es keine Beschränkung für gemeinsame Tätigkeiten in Genossenschaften, manche haben neben dem Wohnprojekt noch eine Kinderkrippe, eine Hausaufgabenbetreuung oder gar ein eigenes Restaurant.

Zürich hat einen Anteil von 20 Prozent an genossenschaftlichem Wohnraum, ähnlich viel gibt es Hamburg – in München sind es nur fünf. Genossenschaft ist natürlich nicht gleich kollektiv genutzter Wohnraum, aber oft können in Genossenschaften neue Ideen für Stadtwohnen gedeihen. Die Zukunft des urbanen Lebens besteht im Teilen – nicht nur von Autos, sondern auch von privatem und öffentlichem Raum. Schließlich ziehen seit einigen Jahren nicht nur die ganz Jungen in die Städte, sondern auch die Klasse der 25- bis 49-Jährigen, wie einige Studien belegen. Und damit eine Gruppe, die sich bisher zur Familiengründung zum Rand und aufs Land zurückzog. Heute wuselt es auf den städtischen Spielplätzen nur so vor Kindern. In Hamburg, Berlin und München stieg der Anteil der unter-14-Jährigen in vielen Bezirken in den letzten zehn Jahren stetig, und nicht wenige von diesen Kindern werden, so die Prognosen, immer in der Stadt leben wollen. Es wird also eng.

»Stadt ist immer auch erzwungene Koexistenz.«

Umso wichtiger ist öffentlicher Raum – ob kollektiv genutztes Eigentum oder tatsächlich kommunale, frei zugängliche Fläche. Was von Urbanisten als Zukunft der Stadt gehandelt wird, ist auch ihre Vergangenheit. Das Konzept der europäischen, durch Stadtmauern beengten Stadt bestand über Jahrhunderte in einer Vermengung von Privatem und Öffentlichem. Walter Benjamin beschrieb das am Beispiel von Neapel als »porösem« Raum: »Existieren, für den Nordeuropäer privateste Angelegenheit, ist hier Kollektivsache. Wie die Stube auf der Straße wiederkehrt, mit Stühlen, Herd und Altar, so, nur viel lauter, wandert die Straße in die Stube.«

Diese Beschreibung erinnert mich an die Schilderungen über das Leben meiner Großeltern und ihrer Kinder. Wegen der Enge hielt man sich nämlich oft im Freien oder in fremden Wohnungen auf. Noch heute erzählt meine Tante, dass mein Großvater so gut wie jeden Abend eine etwa zehnköpfige Gruppe Nachbarn im Waschkeller empfing, wo es hoch herging. Das klingt idyllisch und solidarisch, Städtebauer Michaeli sagt aber auch: »Stadt ist immer auch erzwungene Koexistenz.« Im öffentlichen Raum der Stadt begegnet man nicht nur lustigen Nachbarn. Hier treffen Frühaufsteher auf Nachtschwärmer, Autofahrer auf Radler, Eltern auf Hundebesitzer und Muslime auf AfD-Wähler. Der soziale und politische Raum Stadt bedeutet immer auch: Konfrontation mit Fremdheit, Aushalten von Belästigung, Reibung, Interaktion. Es ist nicht schwer, in dieser Reibung jene Kraft zu erkennen, die alle wichtigen kulturellen Innovationen der letzten hundert Jahre angestoßen hat.

Dass Stadt nicht nur Lust, sondern auch Ertragen von Last bedeutet, kann aber gerade von den Neuankömmlingen leicht vergessen werden. Die zunehmenden juristischen Klagen gegen Kinderlärm deutet Mark Michaeli als »Suburbanisierung« des städtischen Raums: »Städte sind heute sauberer und ungefährlicher als vor 30 Jahren. Die Klientel, die einst in der Peripherie wohnte, weil sie dort die Ruhe suchte, fühlt sich inzwischen auch in der Stadt wohl. Diese Bürgerschicht bringt aber den Wohnanspruch aus Suburbia mit – vor allem das vermeintliche Recht auf vollkommene Ungestörtheit.« Der Boom geschlossener, hochpreisiger Wohnanlagen in beliebten deutschen Großstädten kann so gedeutet werden. Wer aber nicht will, dass die Innenstädte zum sedierten Dorf der Reichen werden, muss bleiben. Zur Not auf wenig Platz.

Süddeutsche Zeitung Magazin Stil Leben

Festwärme

Wir haben das Feiern verlernt. Dabei ist eine richtige PARTY die edelste Form des Luxus. Also, hoch die Tassen!

Wann, lieber Leser, haben Sie zum letzten Mal richtig gefeiert? Und nein, wir reden hier nicht von der silbernen Hochzeit der Tante neulich am Sonntagnachmittag, auch nicht von dieser Wohnungseinweihung, zu der Sie um acht mit einer vollen Schüssel Nudelsalat erschienen sind und die Sie um halb zwölf mit einer halb vollen Schüssel Nudelsalat wieder verließen. Auf einer guten Party regiert das Übermaß, es ist zu eng, zu heiß, zu wild und zu gefährlich, die Gäste tanzen und mit ihnen die Verhältnisse. Und wenn es wirklich gut läuft, wacht man in einem fremden Bett oder in einem fremden Smoking auf. Auf so einem Fest waren Sie schon länger nicht mehr, stimmt’s?

Sie fühlen sich zu alt? Netter Versuch, aber das ist keine Ausrede. Der Exzess ist kein Privileg der Jugend wie Pickel oder Backpacking, im Gegenteil: Man feiert desto besser, je selbstsicherer, eleganter und humorvoller – und das heißt ja wohl vor allem je älter – man ist. Das Problem ist auch gar nicht, dass Sie selbst feiermüde sind. Das Problem ist, dass unsere Gesellschaft feiermüde ist. Der österreichische Philosoph Robert Pfaller attestiert unserer Zeit eine Unfähigkeit zum Genuss. Die amerikanische Essayistin Katie Roiphe beschreibt in ihrem großartigen Buch Messy Lives: Für ein unaufgeräumtes Leben, wie sie in ihrer Kindheit vor vierzig Jahren morgens im Wohnzimmer immer wieder alkoholisierte oder anderweitig berauschte Gäste ihrer Mutter antraf, die es in der Nacht nicht mehr nach Hause geschafft hatten. Roiphe stellt fest: » Die Idee, Dinge nur deswegen zu tun, um sich einen Moment glücklich aus allem auszuklinken, um Intensität und starke Affekte zu empfinden, ist aus der Mode gekommen.«

Es ist noch nicht allzu lange her, da führten uns Schauspieler, Sportler oder Schriftsteller nicht nur ein strahlendes Lächeln, ein beeindruckendes Reaktionsvermögen oder einen makellosen Stil vor Augen. Im Nebenberuf agierten die Reichen und Schönen als Lehrer des guten Lebens. Der Formel-1-Weltmeister James Hunt prahlte, mit mehr als 5000 Frauen geschlafen zu haben, und war keiner Droge abgeneigt. Auf Partys verbreitete er durch seine bloße Anwesenheit eine Atmosphäre der Virilität und Exzessbereitschaft, den anderen Gästen blieb gar nichts anderes übrig, als ebenfalls auszuflippen. Der Schriftsteller Truman Capote ließ die New Yorker monatelang darüber diskutieren, wen er wohl zu seiner berühmten » Black and White Party« einladen würde, und steigerte so die Vorfreude immer weiter. Die 500 Auserwählten trugen auf dem Fest dann Masken, es fiel ihnen also leicht, aus ihrer Normal-Ich-Rolle zu fallen.

Heute erzählt der Formel-1-Champion Nico Rosberg, dass es wichtig sei, früh zu Bett zu gehen, im Übrigen schmecke ein Bio-Smoothie sehr gut. Als der kalifornische Hip-Hop-Mogul Dr. Dre den Verkauf seiner Kopfhörerfirma an Apple lautstark und mit etlichen Bieren zelebrierte, » implodierten « – so ein Insider – die Chefs von Apple » vor Empörung«, weil ein harmloses Video der Sause durchs Internet ging. Nach Meinung der Apple-Bosse sollen wohl auch Gangsta-Rapper nur mit Holunderlimonade feiern.

Ist ja auch gesünder, werden Sie, lieber Leser, jetzt vielleicht sagen, und das ist auch nicht falsch. Der moderne Mensch ist besessen von seinem eigenen Körper. Bald schon werden wir uns die Smartwatch umschnallen, die über unseren Kreislauf, unseren Schlaf, unsere Joggingstrecken und unseren Kreislauf wacht. Apple verleidet dann nicht nur seinen Geschäftspartnern, sondern auch seinen Kunden das Feiern. Denn natürlich schadet eine gute Party unserer Leber und unserem Look, sonst war es ja keine gute Party. Aber wissen wir eigentlich, was wir da verlieren? Es gibt Hinweise, dass die Menschen vor etwa 10 000 Jahren nicht sesshaft wurden, um Ackerbau zu betreiben, sondern um Alkohol zu brauen. Wenn wir feiern, geht es um viel mehr als nur um Spaß.

Als die weißen Siedler mit den Indianern der Nordwestküste Amerikas in Berührung kamen, begegnete ihnen ein seltsamer Ritus: der Potlatch. Das waren regelmäßig wiederkehrende, exzessive Feste, deren Höhepunkt darin bestand, dass einzelne Mitglieder ihr gesamtes Hab und Gut verschenkten. Den Weißen erschien diese Verschwendung als Beleg für die Dummheit der Indianer. Erst der französische Ethnologe Marcel Mauss zeigte, dass Ehre und Ansehen in diesen Gesellschaften direkt vom Grad der Freigiebigkeit abhingen – und die Schenkenden beim nächsten Potlatch noch mehr Geschenke zurückbekamen. Man hütete nicht eifersüchtig seinen Besitz, sondern teilte ihn mit allen anderen. Näher sind sich Konsumismus und Kommunismus nie gekommen. Eingeborene der südpazifischen Inseln erklären ihre latente Partyneigung so: »Unsere Feste sind die Bewegung der Nadel, die die Teile des Strohdachs zusammennäht, sodass sie ein einziges Dach bilden.« Einen letzten Rest des Gemeinschaftssinns, den das Feiern stiftet, kann man beobachten, wenn sich zwei Kollegen morgens im Büro nach einer durchzechten Nacht zuzwinkern. Im Mittelalter wechselten Perioden intensivster Arbeit, allgemeinen Müßiggangs und kollektiven Ausrastens einander ab. Im Jahr 1278 sollen in Utrecht 200 Menschen so lange auf einer Brücke getanzt haben, bis diese einstürzte und die Tänzer in den Fluten des Rheins ertranken. Die Kirche war der erste Partykonzern der Geschichte, der die Gläubigen mit Weihrauch berauschte, in und neben seinen Gemäuern wilde Gelage veranstaltete und auch noch dafür sorgte, dass genug Zeit zum Durchmachen und Ausschlafen blieb: Im 14. Jahrhundert war in manchen Gegenden Deutschlands jeder dritte Tag ein kirchlicher Feiertag.

Die Geschichte der Moderne, so lassen sich etwa 100 000 Seiten soziologische Klassikerlektüre zusammenfassen, ist eine Geschichte der Exzessverdrängung. Schritt für Schritt entsteht der disziplinierte Mensch, der sich und die eigenen Gelüste kontrolliert, einen Spiegel kauft, über sein eigenes Seelenleben im Beichtgespräch und bei der Tagebuchproduktion Rechenschaft ablegt und morgens um acht ausgeruht zur Arbeit erscheint. Diese Entwicklung erreicht im 21. Jahrhundert ihren Endzustand. Die fröhlichen Kapitäne des rheinischen Kapitalismus sind tot oder in Rente. Männer wie der RWE-Chef Jürgen Großmann prahlten mit ihren Genusstalenten und zeigten ihren dicken Bauch so stolz her, als hätten sie Wertpapapiere darin gelagert. Die neue Managergeneration dagegen wird repräsentiert durch Marathonläufer oder Alkoholabstinenzler wie Anshu Jain von der Deutschen Bank. Spaßgesellschaft und neoliberaler Leistungsethos vertragen sich nicht. Ein Foto von Jain mit alkoholselig verdrehten Augen würde den Börsenkurs der Bank über die Klippe stoßen.

Man muss nicht Anshu Jain oder Dr. Dre heißen, um sich den von Partyaufnahmen zu fürchtenden Spaß verderben zu lassen, das gilt auch für unprominente Zeitgenossen. Eine gute Feier ist ein Gegenwartsverstärker. Die alles bestimmende Vergangenheit, in der etwa alle Hierarchien wurzeln, kann für einen kurzen Augenblick ausgeblendet werden. Und die Zukunft, der drohende Morgen wird einfach verneint, für Kopfschmerzen gibt es Aspirin. Aber es gibt kein Mittel gegen Fotos, die uns lächerlich und verschwitzt zeigen, in ungelenken Tanzposen oder in den Armen des falschen Menschen. Nur, was ist es eigentlich, das uns so beschämt?

Natürlich wusste man auch in den Siebzigerjahren, dass ein betrunkener Mensch seltsam aussieht, Rauchen ungesund ist und Affären die Beziehung gefährden. Es gab jedoch kulturelle Formen – die mondäne Haltung beim Rauchen, die Kunst des Flirts, die Lust an der Extravaganz –, die wie eine Absolution wirkten. Sie markierten eine besondere Zone, in der das strenge Regime des Alltags suspendiert war und man kurzfristig eine andere oder ein anderer werden durfte. Dieser Verwandlung steht man heute skeptisch gegenüber. Der moderne Individualist will Regisseur, Drehbuchschreiber, Casting-Agent und Locationscout des eigenen Lebens sein. Gerade weil wir so viel Mühe darauf verwenden, eine perfekte Selfie-Persönlichkeit darzustellen, wollen wir dann niemals aus der Rolle fallen und immer derselbe bleiben, immer fit, immer gesund, immer berechenbar. Das genaue Gegenteil eines Partylöwen.

Dabei ist ein Fest die schönste und edelste Form des Luxus. Schmuck, Abendkleider, Rennautos: All diese Dinge gehören einem Individuum, sie zieren dieses, indem sie es von anderen, die diese schönen Sachen nicht haben, unterscheiden. Auch mit einer opulenten Party ziert man sich – feiern kann man aber immer nur mit anderen. Wer eine Party veranstaltet, ist gleichzeitig Egoist und Altruist.

Das überzeugt Sie alles nicht? Probieren Sie es aus! Lassen Sie Ihre Feier nicht von irgendeinem Anlass wie Geburtstag, Hochzeitstag oder Taufe legitimieren – eine gute Party ist sich selbst der Anlass. Laden Sie so feierlich wie möglich ein. Scheuen Sie sich nicht, amüsante Personen, die Sie vielleicht nicht so gut kennen, dazuzubitten – über eine Einladung freut sich jeder. Am besten geben Sie ein Motto vor. Verkleideten fällt es leichter, den Alltag hinter sich zu lassen. Bitten Sie auch darum, dass jeder das Mobiltelefon ablegt. Und wählen Sie ein Getränk des Abends, das Sie in genügender Menge reichen. Zu empfehlen ist zum Beispiel » Last Word «, ein Drink, der – wie der Name schon sagt – keine Widerrede duldet und der extravagant und ein bisschen altmodisch schmeckt. Dem Grundstoff Chartreuse, einem französischen Kräuterlikör, wird eine stimulierende Wirkung nachgesagt. Und den Rest lassen Sie einfach auf sich zukommen.

Süddeutsche Zeitung Magazin Stil Leben

Schamlos

Eine Mode wird zur Norm. Alle rasieren sich. Und zwar überall. In ein paar Jahren wird uns Intimbehaarung bei Frauen und Männern völlig seltsam vorkommen.

Ich bin mit meinen 37 Jahren alt geworden. Das wird mir schlagartig klar, als sich die Tür zur Sauna öffnet und eine ausgelassene Gruppe Mit-Zwanzig-Jähriger hereinkommt: allesamt unten herum nackt. Ich weiß nicht, ob ich sie oder sie mich ungläubiger anschauen. In meiner Jugend gab es diesen Spruch, der mir nun in den Kopf kommt: „Noch kein Haar am Sackl, aber schon Rauchen/Knutschen/in die Disko wollen etc.“ Traf einen der, war klar: man gehörte nicht dazu. Zu den großen Jungs, die mit haarigen Sackeln auf ihren frisierten Vespas saßen und all das machten, das man auch so gerne getan hätte.

Nicht dass Männer ohne Schamhaare etwas Neues für mich wären. Als mein Freund Nils mit Anfang 20 aus einer bayerischen Provinzstadt nach Berlin ging, um dort endlich offen ein schwules Leben zu führen, erzählte er mir bald: „So, nun habe ich es auch getan. Die Schamhaare sind ab.“ Das sei unter allen Berliner Schwulen so eine Art Standard. Für mich war das fremd – aber da die ganze Welt der Schwulen eine fremde war, passte es wieder. Nun aber, angesichts der nackten Überzahl, bin ich es, der sich fremd fühlt.

Schon bald werden Schamhaare so ungewöhnlich sein wie heute unrasierte Achseln bei einer Frau. Alle Untersuchungen zum Thema Intimenthaarung kommen in einem Punkt überein: je jünger, umso nackter. Etwa 90 Prozent der Frauen in der Gruppe der 18- bis 25-Jährigen sollen sich, einer Studie der Universität Leipzig zufolge, die Schamhaare ganz oder teilweise entfernen – wobei der Trend, so amerikanischen Studie, deutlich zur Komplettenthaarung geht. Und: Männer rasieren, epilieren und waxen zwar noch etwas weniger als Frauen (in der Gruppe unter 25 sind es etwa 70 Prozent), „es geht aber deutlich in Richtung Angleichung“, sagt Aglaja Stirn, die im Hamburg Professorin für Psychosomatik ist und über den Enthaarungstrend geforscht hat.

Die Geschichte des Feldzuges gegen das krause Haar ist schnell erzählt. Schon in antiken Hochkulturen wurden Schamhaare entfernt, sowohl aus ästhetischen wie kultischen Gründen. Im Islam wird die Scham- wie Achselhaarentfernung von einem Hadith, einer außerkoranischen Lehre Mohammeds empfohlen. Im Mittealter rasierten sich die Prostituierten ihre Scham. Und in der „ersten sexuellen Revolution“ in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, gab es urbane Subkulturen, in denen eine nackte Genitalgegend gezeigt wurde – eine Praxis, die von den Nazis, die eine blond wuchernde Schambehaarung propagierten, als „dekadent“ gebrandmarkt wurde. Ab den 1980er Jahren wurden in der Pornographie zunehmend weibliche Geschlechtorgane nackt gezeigt. Zum einen, weil auf diese Weise tiefere gynäkologische Einblicke möglich sind – was dem genre-internen Siegeszug der Hardcore-Pornografie geschuldet war. Zum anderen, weil Haar bei den intensiven Reibungen schlicht unangenehm ist.

Der eigentliche Take-Off der Intimenthaarung aber fand in Brasilien statt. Wo Frauen schon immer ein besonderes Augenmerk auf die „Bikini-Zone“ legten, setzte sich in den 1980er Jahren das „Brasillian Wax“ durch – die Komplettentfernung mit heißem Wachs. In den USA fiel dieser Trend auf besonders fruchtbaren Boden. Mit Körperbehaarung stand man hier schon lange auf Kriegsfuß. Als im Jahr 2000 in einer Sex and the City-Episode die Protagonistin Carrie Bradshaw sich über ihr „Brasillian Wax“ ausließ, schossen Studios wie Pilze aus dem Boden. Schützenhilfe von Promis kam hinzu: 2003 schwärmte Victoria Beckham von ihrem „Wax“. Inzwischen gibt es auch in Wunsiedel und Bielefeld Enthaarungs-Studios.

Bewertet wurde dieses Phänomen bisher vor allem von Feministinnen. Am eloquentesten macht das die englische Feministin Caitlin Moran, die sich darüber ärgert, dass der Trend Frauen alle vier Wochen zu einer teuren und sehr schmerzhaften Prozedur verdamme. Der Kern ihrer Kritik: „Zeit und Geld, die wir da investieren, sind doch eine Art Steuer auf unsere Vagina.“

Was dieser Kritik entgegensteht, ist zum einen die Tatsache, dass zumindest einige Frauen mit ihrem enthaarten Geschlecht ganz zufrieden sind. In einem Interview äußerte sich eine Amerikanerin ganz unmissverständlich: sie möge es nun mal, wenn Männer an ihr Oralsex praktizierten. Das passiere aber vor allem, wenn sie enthaart sei. Dazu passt auch die Erkenntnis einer US-Studie, dass vor allem sexuell aktive Frauen waxen. Und eben – und das ist der noch wichtigere Einwand gegen die feministische Kritik – auch Männer.

Etwa mein Freund Leon. Er ist 28, Schauspieler und lebt in Köln. Drauf gekommen sei er, als er mit einer gewaxten Frau Sex hatte. „Ich fand das eigentlich gar nicht schön. Als es dann zum Oralsex kam, war es einfach toll. Cunnilingus ist sowieso super – aber noch viel besser, wenn man keine Haare im Mund hat.“ So sei er auf die Idee gekommen, es auch selbst zu probieren. Rasieren kam für ihn nicht in Frage, allein schon bei dem Gedanken an Bartstoppeln im Schritt schüttelt er sich. Die Methode mit Kaltwachsstreifen kam ihm vor wie eine besonders effektive Foltermethode, also ging er in ein „Sugaring“-Studio, in dem die Haare mit einer Art Karamel-Paste entfernt werden. Die Prozedur selbst sei zwar auch „the opposite of fun“ gewesen (vor allem die Tatsache, dass die Enthaarerin noch eine Kollegin anlernen musste) aber mit dem Ergebnis war Leon höchst zufrieden. „Wenn die Stellen enthaart sind, sind sie unglaublich sensibel. Wenn ich dann da angefasst werde, ist es viel intensiver. Oft muss ich beim Sex kichern, so kitzlig bin ich.“ Die Paste koche er sich inzwischen selber: vier Tassen Zucker mit je einer halben Tasse Zitronensaft und Wasser.

Für Leon ist die Sache klar: „Ich mache es, weil mein Sex so besser ist“. Wenn es bei allen so wäre, wäre die Sache damit erledigt. Intimhaarentfernung wäre ein weiterer Fortschritt der Menschheit, ähnlich, sagen wir mal: dem Zähneputzen. Aber so einfach ist es nicht. Denn dass der sich so schnell durchgesetzt hat, liegt an seinem imperativen Charakter. Das Wort Schamhaar ist in den letzten Jahren umdefiniert worden: heute bedeutet es nicht mehr: „Haar, das die Scham bedeckt“ – sondern: „Haar, für das man sich schämt“. Die Psychosomatikerin Aglaja Stirn: „Ein Großteil der 20-Jährigen sagt heute: ‚es ist mir unangenehm, behaart in die Sauna zu gehen.’ Die Frauen und Männer heute machen das nicht aus freien Dingen.“

Meine Bekannte Clara, 32, Fotografin aus Wien, berichtet mir von einem One-Night-Stand, den sie vor ein paar Jahren mit einem Anfang-20-jährigen Mann hatte. Alles sei bestens gelaufen, sie fanden sich nett, attraktiv, wollten miteinander ins Bett. Dort blieben sie aber nicht lange: „Als er mich anfasste, fragte er offensichtlich verdutzt: ‚wieso hast Du denn da Haare?’ Es war nicht böse gemeint – trotzdem war ich so empört, dass ich ging.“

Die geplatzte Affäre erinnert an eine unglückliche Episode aus dem Leben John Ruskins, des größten Dichter des Viktorianismus. Der war verschossen in die glatten Statuen des klassischen Griechenlands. Als er dann in der Hochzeitsnacht entdeckte, dass seine Braut nicht aus Marmor sondern Fleisch und noch dazu behaart war, erschrak er so, dass er die Ehe nicht vollziehen konnte. Über John Ruskins Impotenz lachte die gebildete Herrenwelt des 19. Jahrhunderts. Vielleicht war er aber einfach nur seiner Zeit voraus. In Internetforen finden sich heute Sätze wie dieser: „Schamhaare sind einfach eklig. Schaut euch mal einen alten Porno an, dann wisst ihr, was ich meine.“ Was bedeutet das Begehren nach der neuen, nackten Scham?

Eine Deutung ist offensichtlich – aber so anstößig, dass sie nur selten ausgesprochen wird. Eine komplett enthaarte weibliche Scham ist dem Augenschein nach ein Kindergenital. Sind also all die jungen John Ruskins verkappte Kinderschänder? Natürlich ist das Quatsch. Psychosomatikerin Aglaja Stirn aber gibt zu bedenken: „Frauen, die sich enthaaren, entfernen gewissermaßen ihre sekundären Geschlechtsmerkmale. Sie verwandeln sich rein optisch in einen präpubertären Körper. Damit signalisieren sie vor allem eines: Reinheit und Ungefährlichkeit. Das hat heute eine große Anziehungskraft.“

So paradox es scheint: zum einen verweist der Trend auf so „schmutzige“ Dinge wie Pornographie, auf Oralsex und ein aktives Sexualleben. Und doch kann er, so Stirn, als „Sexualabwehr“ interpretiert werden: „Die Sexualität soll vom Triebhaften gereinigt werden. Mit Haaren assoziiert man Tierisches: Schmutz, Geruch, Unreinheit.“

Es geht um die Frage der Bilder – und auf dieser Ebene findet gerade ein Wandel statt: Das alte Bild der triebhaften, schmuddeligen und tendenziell exzessiven Sexualität, die aus diesem Grund aus der öffentlichen Sphäre verbannt war, weicht einem neuen Bild des sauberen Sexes, der sich am Ideal des Sports orientiert – fitte, glatte Körper, die allenfalls von einer schön glänzenden Schweißschicht überzogen sind. „Zum einen wird Sport immer mehr sexualisiert“, sagt Aglaja Stirn, „die Outfits werden immer knapper, es gibt so etwas wie ‚Table-Dance als Work-Out‘. Auf der anderen Seite wird Sexualität versportlicht.“ Man könnte sagen: und damit entsexualisiert. Dieses Bild der sauberen, sportlichen Sexualität ist nicht mehr verbannt ins Boudoir, sondern darf in der Gesellschaft offen gezeigt werden. Auf diese Weise löst sich auch der vermeintliche Widerspruch: das Ideal des reinen Körpers ist kein Gegensatz zur allgegenwärtigen Sichtbarkeit der neuen Mainstream-Pornographie (dass es daneben unzählige kleine Porno-Genres gibt, in denen die Rückkehr des Verdrängten – Haare, Falten, Schmutz – gefeiert wird, versteht sich auch von selbst…). Die Pornographie selbst unterliegt dieser Kontrolle – und transportiert sie. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, Pornos als Work-Out-Anleitungen zu betrachten. Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch hat für diesen Kulturwandel der Sexualität eine sehr griffige Formel gefunden: „Wohllust statt Wollust“.

Das passt sehr gut zu den Thesen des österreichischen Kulturphilosophen Robert Pfaller. Der wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass unsere Kultur gerade einem drastischen Reinigungsprozess unterzogen wird: dass alte Genusstechniken wie Rauchen und Alkoholtrinken unter Generalverdacht gestellt werden und einen neuem Puritanismus weichen, dessen Ideale Fitness, Sport und Gesundheit sind. Als Symbol dieses neuen Regimes sieht Pfaller Fake-Lebensmittel wie Butter ohne Fett, Bier ohne Alkohol und Kaffee ohne Koffein. Sie suggerieren, dass es so etwas wie Genuss ohne Reue möglich wäre. Und in dieses Paradigma fügt sich auch der neue „Sex ohne Körper“ – oder genauer: der Sex, dessen Ideal der unschuldige Körper ist. Was abhanden komme, so Pfaller, sei die Fähigkeit zur „Sublimierung“: darunter versteht er, dass Objekte oder Handlungen, die normaler Weise Ekel erregend sind – etwa der Rausch mit seiner Tendenz zur Entartung, der Tabakrauch, von dem wir alle wissen, wie schädlich er ist oder aber das tierische, unter ständigem Geruchsverdacht stehende Schamhaar – in gewissen Situationen nicht nur ihren Schrecken verlieren, sondern selbst Quelle der Lust werden können.

All das muss denen, die sich ihre Schamhaare entfernen, gar nicht bewusst sein. Und trotzdem – oder besser: genau deswegen wirkt die neue Doktrin. Clara etwa, die einst das unangenehme Zusammentreffen mit dem erschrockenen jungen Mann hatte, erzählt mir, dass sie nun auch gelegentlich zum Waxing gehe. Nicht wegen des Blödmanns. Sondern weil sie sich dann „irgendwie sauberer“ vorkommt. Während unseres Gespräches kommt jedoch sie ins Zweifeln: „Aber eigentlich duscht man sich ja sowieso täglich…“ Auch erinnert sie sich an eine unerfreuliche Episode, die sie mit ihrem zeitgemäßen Genital einmal hatte: Sie war, im gemeinsamen Ski-Urlaub, mit ihrem Vater in der Hotel-Sauna. „Auf einmal war es mir total unangenehm, dass er mich da enthaart sieht. Es war so, als ob ich ein Ausrufezeichen zwischen den Beinen hätte. “

Genau das aber, dieses Ausrufezeichen, das die Modifikation der eigenen Intimgegend immer bewirkt, kann auch positiv gesehen werden. Paula Villa ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der LMU München. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte: Körpermodifikationen. Auf der einen Seite interpretiert auch sie den Trend zur Intimenthaarung als „Leibvergessenheit“: „Der Körper muss heute von allen biografischen Spuren gereinigt sein. Alles, was andeuten könnte, man hätte den Körper nicht im Griff, löst Ekel aus.“ Im Hintergrund stehe das für die Gegenwart wichtige Subjektivitäts-Modell des „unternehmerischen Selbst“: „Man muss ständig an sich arbeiten, sich optimieren. Man ist alleine für sich verantwortlich.“ In diesem Sinne werde der Körper als „Rohstoff des eigenen Selbst“ betrachtet, der sauber und leistungsbereit zu sein habe.

Aber, und nun kommt das große Aber: „Man darf auch nicht vergessen, dass damit auch eine neue Freiheit einher geht: Der Körper ist eben nicht mehr Schicksal. Man kann Modifikationen auch als Ausgang aus der Natur, hin zu einem selbstbestimmten Körper interpretieren.“ Als Beleg für diese These führt sie an, dass Moden wie Piercing aber eben auch die Enthaarung zuerst in lesbischen und schwulen Kreisen praktiziert wurden: als ästhetische Vignetten gegen ein „natürliches“ Verständnis von Sexualität, das immer mit Fortpflanzung zu tun hatte – und in dem jede Form anderer Sexualität nur als „pervers“ gelten konnte.

Als mein schwuler Freund Nils mir damals erzählte, dass alle Berliner Schwulen rasiert seien, fragte ich ihn nicht, wieso. Das mache ich nun. Er denkt lange nach. Geht es um den kindlichen Körper? Ja, vielleicht. Natürlich finde er auch die Idee eines jungen, glatten Körpers gut. „Aber eigentlich ist es etwas anderes: ein rasiertes Geschlecht ist ein Fetisch“, sagt er.

Hier stößt man an eine Geschlechterdifferenz, die nicht wegzudiskutieren ist – weil sie eine anatomische ist. Enthaaren sich Frauen, verwandeln sie sich in Kinder. Das wird durch die als nächstes anstehende Intimmodifikation, die Schamlippenkorrektur, nur noch deutlicher. Paula Villa erzählt, dass Schönheitschirurgen, die diese durchführen, unverhohlen mit einem präpubertären Ideal werben, im Fachjargon wird vom „Brötchen-Look“ gesprochen (geschlossene Form mit Schlitz in der Mitte). Enthaaren sich Männer, geht es um das genaue Gegenteil. Es ist offensichtlich, dass sie nicht einen Kinderkörper nachahmen wollen: Kleine Jungs haben einen winzigen Pimmel. Als Grund für die Rasur wird oft ganz offen angegeben, dass ein Penis, der sich dann nicht in Schamhaaren versteckt, länger wirkt. Vor allem aber, das meint Nils: ein haarloser Penis wirkt präsenter, offensiver, brutaler. In seiner künstlichen Glätte ist er gewissermaßen ein vom Körper abgelöstes Objekt – eben ein Fetisch. Ein und dieselbe Praxis kann auf symbolischer Ebene ganz konträre Bedeutung haben – je nachdem, ob es Männer oder Frauen machen.

Zwei Tage nach unserem Gespräch mailt mir Clara noch einmal. Betreff: Haare. „Ich habe noch mal lange über die Schamhaare nachgedacht. Ich glaube, ich lasse das mit dem Waxing bleiben.“ Vielleicht gehen wir in Zukunft gemeinsam in die Sauna. Dann fühlt man sich nicht so fremd, unter Nackten.