Nichts macht mich wütender als dieser eine Satz, vorgetragen in jovial-spöttischem Tonfall: „Na, was ist los im Internet?“ Ein Kollege sagt ihn gerne, wenn er sich hinter mir rumdrückt und mir mal wieder auf den Bildschirm blickt. Und es ist kein nsfw-(not safe-for-work)-Material, das er dann sieht, keine Busenbilder. Es sind Witze. Einen nicht geringen Teil meines Online-Tages hüpfe ich zwischen verschiedenen Chat-Gruppen, treibe mich auf dubiosen Seiten herum und – vor allem das – scanne Facebook. Kurz: ich mache Quatsch. Aber eigentlich weiß ich, dass ich Wichtiges leiste. Und dass die Welt besser wäre, wenn mehr Menschen im Internet gute Witze machen und verbreiten würden.
Natürlich gibt es die Warner. Die sind so diskursmächtig, dass auch ich mich davon nicht ganz frei machen kann, aus irgendeinem Grund fühle ich mich von meinem Kollegen ja ertappt. Da ist etwa der Hirnforscher Manfred Spitzer, die Digital-Cassandra. Der könnte mich in einen Glaskasten setzen und seinen Jüngern als Beispiel für das vorführen, was er „digitale Demenz“ nennt. Wie kein zweiter warnt Spitzer vor der Verflachung der Welt durch digitale Angebote. Seine Rechnung: Je mehr Internet umso weniger Konzentration und Sozialkompetenz. Flankiert wird dieses Raunen durch zahlreiche Studien, die vor netzgestörten Persönlichkeiten warnen. Etwa eine ganz neue aus Südkorea, die zeigt, dass Narzissten auf Facebook ein besonderes Unwesen treiben: ständig posteten sie Selfies, studierten misstrauisch die Bilder anderer User und reagierten aggressiv auf Kritik. Und wirklich: was ist trauriger als das nette Grinsen, das in einen leeren Gesichtsausdruck zerfällt, sobald das Mobiltelefon am ausgestreckten Arm das vorteilhafte Bild aufgenommen hat?
Und doch habe ich nicht das Gefühl, im Netz zu verdummen. Im Gegenteil. Und das liegt fast nur an der Art von Humor, die hier gezüchtet wird. Der Soziologe Niklas Luhmann prägte im Bezug auf Kunst den Begriff „Kompaktkommunikation“. Damit meint er, dass ein Kunstwerk viel mehr ist als das, was man sieht. Stimmungen, Diskurse, Konzepte, Traditionen: all das „dockt“ an das Objekt an, lädt es auf. Humor im Netz funktioniert oft genau so. Ein Freund, leidenschaftlicher Skifahrer, postete kürzlich ein Selfie. Darauf zu sehen ist der Ski-Guide, ein stattlicher Bergmensch mit vereistem Bart und dahinter, mit nacktem Gesicht und etwas mausäugig dreinblickend, mein Freund. Dazu der Satz: „Mein Gott, wieso hast du mir keinen Bart wachsen lassen?“ Hier wurde eine Menge kompaktkommuniziert: ein komplexes Gebilde aus Stolz und Neid, dazu der ganze grandiose Schwachsinn, im Schneesturm auf 2500 Metern Höhe das Glück zu suchen. Die Persönlichkeit meines Freundes erstand aus dieser Bild-/Spruch-Kombination wie ein Hologramm. Es hagelte Likes.
Mein Facebook-Persönlichkeit funktioniert anders. Ich poste kaum Bilder von mir, sondern eigentlich nur Dinge, die mich belustigen. Kürzlich etwa einen besonders hässlichen, darmartigen Pudding, den ich gekocht hatte – als Kommentar zur grassierenden Food-Fotografie. Oder, ein persönlicher Spleen, Werbebilder von Lebensmitteln, die sich selbst verspeisen: Eine Eistüte, die ein Eis schleckt. Oder ein Schwein, das ein Schnitzel klopft. Diese Bilder gehen nicht gerade viral, aber doch erkennt jeder, der sie sieht, mich darin wieder. Meine Freude an absurden Szenarien und Nostalgie, sowie meine Sammelleidenschaft werden darin kompaktkommuniziert.
Das Alles funktioniert vor allem unter der Voraussetzung digitaler Verfügbarkeit. Für makabre Metzgerschilder konnte ich mich schon immer begeistern. IRL (in real life) sieht man aber vielleicht nur zwei lustige Exemplare im Jahr. Das ändert sich im Netz. Hier hat findet man plötzlich zu jedem noch so abwegigen Thema umfangreiche Galerien. Humor im Internet findet hauptsächlich auf der Bildebene statt. Oft reicht schon die Absurdität des Bildes. Wunderbar sind Sammlungen unter Titeln wie „completely unusable stock-photos“: etwa ein alter, dicker Mann mit Basecap und Unterhemd, der an einem riesigen, bunten Lolli leckt: WTF!
Handelt es sich bei den Netzwitzen – wie im Fall der lächerlichen Agenturbildern – um wiedererkennbare Elemente, spricht man von Memen. Der Begriff geht auf den Biologen Richard Dawkins zurück, der damit die Bausteine der sozio-kulurellen Evolution benennen wollte. In der Wissenschaft konnte sich der Begriff nicht durchsetzen, dafür im Netz. Man bezeichnet damit Elemente – Bilder, Videosequenzen, Sprüche – die immer wieder abgewandelt werden und deren Inhalt sich dadurch graduell verändert.
Einer der besten Meme, die es je gab und ein gutes Beispiel dafür, wie Netzhumor funktioniert, ist „Confused Travolta“. Es handelt sich um eine kurze Sequenz aus dem Quentin Tarantino-Film „Pulp Fiction“ (1994). Darin betritt Travolta eine Wohnung und ist offensichtlich verwirrt. Er blickt fragend nach links und rechts, zuckt die Schulten. Im letzten Dezember dann montierte ein User den verwirrten Travolta in einen Spielwarenladen mit Tausenden von Puppen. Darunter der Spruch: „Ich fragte meine Tochter, was sie sich zu Weihnachten wünscht. Sie sagte: eine Puppe.“ Wieder ein Fall von Kompaktkommunikation: Die Bescheidenheit des Kinderwunsches vs. das Überangebot der Spielzeugindustrie, auch ein bisschen Kritik angesichts der Übergriffigkeit von pinkem Kindertrash – viele Eltern hatten dafür ein LOL übrig und teilten das gif. Aber damit ging es los. Sehr schnell tauchte Travolta vor diversen Hintergründen auf. In ikonischen Filmszenen (etwa in Hitchcocks Psycho, verschwommen hinter dem Duschvorhang) oder, als Sinnbild der Fassungslosigkeit, in einem leeren Geldbeutel. Die beiden schönsten, die ich fand: zu Ostern stand Confused Travolta in der leeren Grabhöhe Jesu. Oder, gerade eben: vor einem Baum, hinter dem ein Pokemon hervorgrinst – das perfekte Sinnbild für Verunsicherung im „digitalen Neuland“.
Dieser Mem zeigt einen zentralen Mechanismus von Netz-Humor. Viele analoge Witze funktionieren über eine einfache Pointe, die schon Sigmund Freud beschrieb: Ein verdrängter Sachverhalt bricht in der Pointe hervor, das Tabu darf kurz weggelacht werden. Internethumor ist anders. Was hier zum Einsatz kommt, ist das Prinzip Dekontextualisierung. Der Lolli-Opa in einem Lehrbuch über psychische Störungen ist tragisch. Aus dem Zusammenhang gerissen und auf sich selbst zurückgeworfen, verweist das Bild auf die Frage, was der Mann wohl beim Klicken der Kamera gedacht hat, was der Fotograf sagte – und wer überhaupt die Idee für dieses idiotische Bild hatte. Der Humor ist hier eher ein atmosphärischer Effekt als eine wiedererzählbare Pointe, er entsteht aus der Serialität und dem Ausloten verschiedener imaginärer Szenarien.
Lange überlegte ich, wieso der Travolta-Mem bei mir – und bei Millionen anderer User – so zündete. Zum einen ist da diese höchst dubiose Figur Travolta. In dieser Szene aber wirkt er so trottelig-sympathisch, dass man ihn sofort umarmen möchte. Dann seine Reaktion: er befindet sich offensichtlich in einer Situation, derer er nicht Herr ist. Und doch ist er ganz und gar souverän, weit entfernt von Zerknirschung, er blickt sich fast schmunzelnd um. Was mit dem „Confused Travolta“ kompaktkommuniziert wird: die Gelassenheit desjenigen, der sich wundert – aber nicht aufregt.
Und genau hier zeigt sich so etwas wie die gesellschaftliche Relevanz diesen ganzen unterhaltsamen Quatsches. In den letzten Jahren verkam das Netz zu einem Wutkäfig. Ständig explodieren User vor Hass, weil sie irgendetwas nicht mögen oder verstehen. Der verwirrte Travolta ist ein Gegenmodell dazu. Er ist der Held, der uns zeigt, wie man im Internet und in der Welt überleben kann: mit Witz und Gelassenheit. Das ist auch der Grund, wieso auch das verunglückte Ski-Selfie meines Freundes so erfolgreich war: weil er damit klar machte, dass er sich auch selbst ein bisschen lächerlich findet. Diese fröhliche Distanz zu sich selbst (oder zu den Dingen, über die man sich ärgert) kann ein Kühlmittel sein für die gerade heiß laufende Erregungsmaschine Internet.
Nicht zuletzt thematisiert der Mem die Entstehungsbedingungen digitaler Artefakte. Denn hier geht es nicht mehr um die geniale Urheberschaft. Travolta und auch Tarantino sind ziemlich egal bei diesem Mem. Gefeiert wird eher die Entdeckung durch mehr oder weniger anonyme und altruistische User – gleichermaßen das Gegenstück zum täglich gescholtenen Netz-Narzissten und zum Wut-Troll. Jeder kann heute jederzeit mit einfachsten Mittel an einer weltweit sichtbaren Ideenproduktion teilnehmen. Klar, auch ein kluger, auf einem Blog veröffentlichter Essay kann Aufmerksamkeit erregen. Aber gerade weil Netzwitze oft nur über ein Bild funktionieren, verbreiten sie sich rasend schnell und über Sprachgrenzen hinweg. Genau so schnell können sie konsumiert werden – quasi im Gehen.
Die Netzskeptiker werden nun einwenden: jaja, da haben wir sie, die verflachte Kommunikation der Gegenwart, alles nur noch To-Go! Aber nichts könnte falscher sein. Da Internet-Humor mit Dekontextualisierung, mit gewagten Assoziationen und oft an (und jenseits) der Grenze der Verständlichkeit arbeitet, kommt er eben nicht mit einem simplen Lacher zum Abschluss. Da gibt es etwa das relativ neue Netzhumor-Genre, das komplett kryptische Ausschnitte aus mittelalterlichen Bildern mit nicht unbedingt erhellenden Kommentaren versieht: Natürlich lacht man zunächst ob der Albernheit der Kombination. Was aber dadurch in Gang gesetzt wird, ist eine nicht zum Abschluss kommende Hermeneutik.
Das gilt nicht nur für den Witz selbst, das gilt vor allem auch dafür, was damit gemacht wird. Humor ist ein Persönlichkeitsmarker, wesentlich exakter als intellektuelle oder geschmackliche Vorlieben. Gerade im digitalen Raum, der durch ein paradoxes Verhältnis von Nähe und Anonymität gekennzeichnet ist, ist das überlebenswichtig. Wer wann welche Witze teilt, likt oder gar erfindet: das alles ist hoch signifikant und lesbar. Schnell ergibt sich so eine eigene Etikette, ähnlich komplex wie das spanische Hofzeremoniell. Formen des Ein- und Ausschlusses entstehen, verschiedene Gruppen bilden private Humorsprachen. Wer über dieselben Dinge lacht wie ich, mit dem werde ich mich aller Wahrscheinlichkeit auch sonst gut verstehen.
Deswegen war es auch eine freundschaftliche Geste, als ich kürzlich den nervigen, dann aber doch geschätzten Bürogenossen heran bat, der sich mal wieder hinter mir herumschlich. Ich zeigte ihm die Witzseite namens- „Nachdenkliche Sprüche mit Bilder“ auf Facebook. Deren Prinzip ist einfach: ultrahässliche Apothekenkalenderfotos von Sonnenuntergängen und weinenden Engeln werden mit orthografisch krüppeligen „Weisheiten“ kombiniert. Etwa: „Sehmsucht ist die Quinkesenz der Freiheit“. Das Ganze ist so erfolgreich, dass aus der unkorrekten und vertrottelten Sprachverwendung inzwischen ein eigener Meme wurde, der sogar von der Sparkasse –außerordentlich unbeholfen – in einer kleinen Kampagne verwendet wird. Wieder zeigt sich hier das Grundprinzip des Netzhumors: Uneindeutigkeit. Natürlich sind die Text-Bild-Kombinationen eine Art Kommentar auf den wuchernden Schwachsinn im Netz, auf die erbaulichen Sprüche, die stündlich in den Timelines all jener gepostet werden, die man eigentlich längst entfreunden hätte sollen. Aber zugleich bedienen die Witze auch ein Ressentiment, lacht man doch auch über die geringen geistigen Fähigkeiten der Unterschicht. Zuletzt haben die „nachdenklichen Sprüche“ aber auch manchmal einen poetischen Wert, der sich schwer beschreiben lässt und dem ich mich nicht entziehen kann. Etwa, ein Klassiker der Seite: „Rainbo Schwan. Bezaubernde Wesen aus 1 andere Galaxy oder doch nur Fantasy“ Mein Kollege verstand sofort. Dann jammerte er: „Was hast du getan! Ich muss doch arbeiten.“
Es ist freilich nicht von der Hand zu weisen: Das alles kostet Zeit. Und anders als Stammtischunterhaltungen, kannibalisiert sich diese Zeit auf ungute Weise mit jener, in der Geld verdient werden muss. Eine Lösung für dieses Problem habe ich auch nicht. Aber ein Bild: ein verwirrter John Travolta, der vor einem Facebook-Profil steht.